Thüringische Landeszeitung

Rosenkrieg in der Lobby 

Am Staatstheater Kassel zieht Anke Stedingk als "Medea" alle Register der Leidenschaft. 

Während die Welt sich von spitzenbesetzten Bildern royaler romantischer Liebe erst noch erholt, stürzt der königliche Hof zu Korinth in schwärzeste Verzweiflung. Es wütet Medea, jene tragische Figur der griechischen Mythologie, die als Sinnbild der Rache gilt. Anke Stedingk, die im Schauspielhaus Kassel mit furiosem Einsatz, quasi mit Haut und Haaren die Titelpartie im Drama "Medea" des Euripides verkörperte, ist eine - im Wortsinn - ausgezeichnete, mehrfach preisgekrönte Tragödin. Ihrer Bühnenpräsenz ist der Löwenanteil des Premierenerfolges zuzuschreiben. Ihre Medea strotzt vor Energie, vor rasender Wut, vor ungebremster Leidenschaft und kühl dosierter Schamlosigkeit. 

Bereits ihr erster Auftritt in der schalen Kunstlicht-Atmosphäre einer ehrgeizig im samtigen Zeitgeschmack der 60er Jahre eingerichteten seelenlosen Hotellobby mit allerlei blickdichter Großblattbotanik (Bühne: Daniel Roskamp) deutet das Unheil brütende Potenzial der angetrunkenen, unberechenbaren Herrin an. 

Es wird furchtbar kommen, soviel ist gewiss. Denn der Centaur Chiron (Jürgen Wink), der seinen in freien Rhythmen gesprochenen Prolog noch im blutrot ausgeleuchteten Interieur als vom Publikum eher belächelter Vierhufer abgehalten hatte, kündet seinem Pflegesohn Jason das Schicksal. Doch wie so oft im direkten Kontakt der Generationen will der Sohn von den Geschichten des Alten nichts wissen. Mit dieser Eingangsgeste verbeugt sich Regisseur Gustav Rueb vor dem großen griechischen Stoff. Nach "Alkestis" und den "Bakchen" ist "Medea" seine dritte Euripides-Inszenierung am Kasseler Staatstheater. 

Über den Bass einer E-Gitarre transferiert er das attische Trauerspiel in ein beklemmendes Kammerspiel, vor dem man gut und gerne Angst haben kann wie vor Virginia Woolf. Nicht die Macht des Schicksals, nicht die Unausweichlichkeit göttlicher Vorhersehung wird den Protagonisten zum Verhängnis, sondern der bürgerliche, fragile Gesamtzusammenhang Ehe und Kleinfamilie, worauf die Tragödie letztlich eingedampft wird. Man nennt das dann Rosenkrieg. Da gibt ein Wort das andere in der deutschen Übersetzung von Hubert Ortkemper, und König Kreon (Uwe Steinbruch) bedient sich eines Berlusconi- Zitats. Bunga, Bunga! 

Vor den Augen der beiden blassen, nicht nur bei Tische stummen Kinder kommt es mit dem Auftritt des gewaltbereiten Jason (Enrique Keil) zum ersten Eklat mit seiner vor Eifersucht schäumenden Gattin. Anke Stedingks hart geschminktes Gesicht: Das gesamte Mienenspiel kann in Sekundenschnelle ins Versteinerte kippen, ebenso wie sie von tiefster Kränkung geknickt ohne Vorwarnung in äußerste Raserei verfällt. Diese Frau im glitzernden Neckholder (Kostüme: Ulrike Obermüller) ist ein Vulkan. Ihr untreuer Gatte überzieht das unverhohlen lauschende allgegenwärtige Personal mit der dazugehörigen Portion Lava aus Furcht und Schrecken. Ungestört will er sein, ein letztes Mal Sex haben. So reagiert der nackte Mann auf die flambierte Frau. Es ist die alte Nummer. 

Die Angst um die zierlichen, wehrlosen Knaben verstärkt der Chor der Angestellten in großartig wirrem, kanonartig einsetzendem Textvortrag. Die Domestiken werden das Vorhaben der Kindsmörderin nicht stoppen. Der eindrucksvolle Monolog des Boten (Jürgen Wink), der vom grausamen Tod des Königs Kreon und seiner Tochter berichtet, bereitet auf den Kulminationspunkt der Handlung vor. Die Kampf-Choreographie (Axel Hambach) der beiden Streithähne ist bei allem Schauer staunenswert professionell. Alles ist erlaubt: treten, würgen, ertränken, gegen die Wand werfen. Wie Erynnien erscheinen die Kinder im weißen Hemd. "Mama und Papa sind jetzt wieder leise", versprechen die lädierten Eltern. Und sie halten sich daran, aber das hören die kleinen Engel nicht mehr: aufgesetzter Schuss, aufgesetzter Schluss.