Frankfurter Rundschau

Siehe da, ein Mensch 

Gustav Rueb inszeniert Euripides in Kassel 

Von Joachim F. Tornau 

Nein, das klingt nicht übermenschlich. Genau genommen nicht einmal nach antikem Trauerspiel. "Diese ganze Scheißdrecksfamilie soll untergehen", sagt Medea, und es ist eher resignierte Verzweiflung als barbarischer Racheschwur. 

Zum dritten Mal inszeniert Regisseur Gustav Rueb, Jahrgang 1975, am Kasseler Staatstheater eine Tragödie des Euripides, und wieder präsentiert er den antiken Stoff auf ganz eigene Weise. "Alkestis" spielte in einer grauen Bushaltestelle im Nirgendwo. Die "Bakchen" suchten im schäbigen Hinterzimmer einer Kneipe nach dem nächsten Kick. Für "Medea" nun ließ er Daniel Roskamp - der Bühnenbildner sei für sein detailverliebtes Werk erneut gepriesen - ein Hotelfoyer voll Fünfziger-Jahre-Pracht auf die Bühne des Schauspielhauses bauen. 

Eine geschwungene Treppe windet sich um eine samtumspannte Säule, großgemusterter Stoff bedeckt die Wände, vor großen Schiebetüren plätschert ein Zimmerbrunnen. Die Antike erscheint hier im Retro-Look. In Zeitlupe schieben sich Dienstbotinnen durch die erdrückende Opulenz. In einer runden Fensternische rasselt immer wieder das Telefon, ohne dass je ein Anruf käme. 

Es ist ein Ambiente, in dem auch der unverständlichste Gedanke gedeihen kann: Das zu töten, was man am meisten liebt, um den zu treffen, den man am meisten hasst. Anke Stedingk als Medea, die sich mit der Ermordung der eigenen Kinder blutig für die Untreue ihres Gatten Jason rächen will, ist keine Furie. Nicht eiskalt, nicht rasend vor Eifersucht. Sie trinkt, ist in ihrer Trauer und enttäuschten Liebe gefangen und schmiedet schließlich - bei einer kurzen Zigarettenpause - mit dem weiblichen Hauspersonal den Racheplan. Auf die Härte, die ihr von ihrem Mann (Enrique Keil) entgegen gebracht wird, reagiert sie mit Härte gegen sich selbst. Kein Monster, keine Hexe, keine Kämpferin. Ein Mensch. Großartig! 

Wie gewohnt hat Rueb auch hier wieder offensiv den Rotstift angesetzt: Auf knapp zwei Stunden hat er den Euripides-Text verdichtet, hat ihn bearbeitet und ergänzt. Und er hat ihm - in Anspielung auf den ursprünglichen Medea-Mythos vor Euripides - ein Ende verpasst, das manchen Premierenbesucher verwirrt nach Hause gehen lässt: Nicht Medea tötet die Kinder. Wovon sie nur redet, das wird schließlich Jason tun - um sich nun seinerseits an Medea zu rächen. Weil sie ihn so erschreckt hat. Und weil sie seine Geliebte ermordet hat. Ein verzweifeltes Unentschieden.