Rachgier einer Mutter geht unter die Haut
Von Michael Schäfer
Unglaublich stark ist sie in ihrem Zorn, tödlich verletzt durch die Untreue ihres Mannes, tödlich in ihren Rachegelüsten, grausam und gnadenlos konsequent im Denken. Medea, Titelfigur des Dramas von Euripides, ist eine in tiefste tragische Konflikte verstrickte Heldin von übermenschlicher Größe. Ihre Rachsucht gipfelt im Mord an den eigenen Kindern.
So hat es Euripides in der 431 vor Christus entstandenen Tragödie beschrieben. Am Ende bringt der griechische Dramatiker göttliche Kräfte auf die Bühne: Nachdem Medea die Geliebte und neue Braut ihres Mannes, deren Vater und ihre eigenen beiden Kinder umgebracht hat, entschwindet sie auf dem Drachenwagen ihres Großvaters Helios, des Sonnengottes, gen Himmel. Der Deus ex machina verhindert eine finale Auseinandersetzung.
Regisseur Gustav Rueb, zuletzt in Kassel mit den „Bakchen“ des Euripides erfolgreich – bei den Hessischen Theatertagen 2010 mit dem Regiepreis ausgezeichnet –, verweigert sich der göttlichen Endlösung. Er verlegt seine Inszenierung in die späten 1950er Jahre, wie Ausstatter Daniel Roskamps mit seiner atmosphärisch dichten Bühne verdeutlicht (man fühlt sich in die Architektur des Kasseler Opernhauses versetzt). Dass Jason die Frau verlässt, die ihm zwei Kinder geboren hat, um eine neue Ehe mit der (jungen) Tochter des korinthischen Herrschers einzugehen, wird zu einem Rosenkrieg, der auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft hätte ausgetragen werden können.
Diese Verlegung in unsere Nähe heizt die dramatische Spannung spürbar an. Der Gedanke, das ginge uns alles ja nichts an, weil das Stück schon fast 2500 Jahre alt ist, will – und soll – sich nicht einstellen. Sehr konsequent hat Rueb die Aktualisierung umgesetzt und dementsprechend auch den Schluss des Stückes verändert. In einer unerbittlich geradlinigen Zuspitzung des tragischen Konflikts lässt er Medea beim Mord an den Kindern scheitern. Wir hören einen Schuss, dann Kinderweinen, Medea kommt mit der Pistole die Treppe herunter, gebrochen, ganz ohne die eindrucksvolle Kraft, die sie in ihrer gnadenlosen Wut und Rachgier zuvor ausgestrahlt hatte. Stumm übergibt sie die Pistole an Jason. Der steigt nach kurzem innerem Kampf die Treppe hinauf. Wir hören zwei Schüsse. Totenstille. Jason setzt sich neben Medea. Blackout.
Das geht unter die Haut – weitaus heftiger, als wenn Medea auf dem Sonnenwagen in den Himmel enteilt wäre. Ist sonst die Aktualisierung eines Theaterstücks nicht selten bloßer Effekthascherei geschuldet, so ist sie hier Ergebnis eines nachvollziehbaren, sehr konsequenten Denkprozesses.
Im Ensemble ragt Anke Stedingk in der Titelrolle mit ihrer eindrucksvollen sprachlichen wie darstellerischen Kraft heraus. Sie besitzt eine enorme Bühnenpräsenz und vermag sehr genau verschiedene Gefühlsebenen zu differenzieren: von der hell auflodernden Rachsucht bis zu dumpfer, abgrundtiefer Verzweiflung, von peinigenden Selbstzweifeln bis zu gieriger Leidenschaft und Sinnlichkeit. Enrique Keil als Jason ist angemessen fies und verächtlich gegen seine erste Frau, vor allem auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Die Einsicht in die finale Katastrophe hätte sich vielleicht noch ein wenig mehr in seinem Spiel spiegeln können.
Unter den weiteren Darstellern sei Jürgen Wink hervorgehoben, der zu Beginn als Kentaur Chiron pfiffig-augenzwinkernd die Vorgeschichte der Tragödie erzählt. Später gehört er in Frauenkleidern dem „Chor der Angestellten“ an, wie Gustav Rueb in seiner Fassung den Chor der Frauen von Korinth nennt. Ihm ist der Botenbericht von der Ermordung Kreusas und Kreons anvertraut: Den gestaltet Wink derart grandios, dass dem Zuschauer die Luft wegbleibt. Das Publikum in der nicht ganz ausverkauften Premiere klatschte begeistert und sparte nicht mit Bravorufen für die Protagonisten.