„Wo die schönen Trompeter blasen“
Wegweisender Offenbach-Abend an der Neuköllner Oper
‚Ba-ta-Clan‘ – bekannter Einakter von Offenbach
Dass Offenbachs Einakter ‚Ba-ta-Clan‘ von 1855 sich heute solcher Bekanntheit und Beliebtheit erfreut – im Gegensatz zu den vielen, vielen anderen Einaktern, die er geschrieben hat – liegt vermutlich daran, dass es von dieser „chinoiserie musicale“ über vier Europäer, die in China gestrandet sind und nichts sehnlicher wünschen, als zurück nach Hause zu kommen, eine grandiose Aufnahme gibt: Erato brachte 1966 jene Schallplatte heraus, die zu den Klassikern der Offenbach-Diskographie gehört und vor allem wegen Tenor Raymond Amade und seiner haarsträubend komischen Imitation einer Trompete im Finale zu den besten Offenbach-Aufnahmen überhaupt zählt. Es gibt wirklich wenige Einspielungen, die einen auch heute noch (inzwischen ist ‚Ba-ta-Clan‘ auf CD veröffentlicht) derart „anspringen“ und mitreißen können, wie das berühmte Finale „Le chapeau chinois, le trombonne! Ding ding ding!“ und das bizarre Mörder-Duett „Morrrrrrrto!“, in dem Offenbach Donizetti und Bellini einmal so richtig durch den (chinesischen) Kakao zieht. „Rrrrrraca“ – aber richtig!
‚Ba-ta-Clan‘ Bearbeitung an der Neuköllner Oper heißt ‚Aufstand der Glückskekse‘
Jetzt hat sich die Neuköllner Oper in Berlin daran gemacht, diese frühe Farce unter dem neuen Titel ‚Aufstand der Glückskekse‘ auf den Spielplan zu setzen und innerhalb einer einzigen Spielzeit nun schon die zweite Offenbach-Premiere am Haus anzubieten. Zur Erinnerung: Erst kürzlich war in Neukölln eine Neubearbeitung von ‚Pariser Leben‘ zu sehen unter dem etwas billig lokalpatriotischen Titel ‚Berliner Leben‘. Die textliche Neubearbeitung erledigte Kriss Rudolph, der zwar ein wahrlich wunderbares Händchen für gute Reime und Pointen hat, aber mir als Offenbach-Fan keinen besonderen Gefallen mit seiner Generalüberholung eines ohnehin schon perfekten Stücks tat – das in meinen Augen zu einer billigen Trash-und-Transen-Nummernfolge verkam. Und wenig mehr. Meine Erwartungen an ‚Ba-ta-Clan‘ bzw. den ‚Aufstand der Glückskekse‘ waren anfangs eher gedämpft. (Musical&Co-Rezension ‚Berliner Leben’)
‚Aufstand der Glückskekse‘ ist richtig gut gelungen.
Allerdings ist es im Fall des chinesischen Einakters ein rundum anderes Produktionsteam, das am Werk ist, und alles, was ich am ‚Berliner Leben‘ so entsetzlich fand, funktionierte auf einmal ganz wunderbar. Rudolph versetzt die Geschichte von den vier Europäern – die im Original alle aus Paris kommen – vom 19. Jahrhundert in die nahe Zukunft, ins Jahr 2030. Sie sind diesmal allesamt aus Deutschland und als geknechtete Gastarbeiter in China am Fließband tätig, nachdem in Europa um 2013 der Euro zusammenbrach und keine Arbeitsplätze mehr zu finden waren. Nach wie vor geht es darum, dass die Europäer zurück nach Hause wollen, weg aus der fremden barbarischen Kultur, die sie nicht verstehen. Aus dem pseudo-asiatischen Herrscher Fé-Ni-Han (Tenor) und dem Chef der Palastgarde Ko-Ko-Ri-Ko (Bass) sind jetzt eine Fabrikaufseherin (Mezzo) und ihr Vordermann (Bariton) geworden, die beiden anderen Figuren sind einfache Arbeiter. Alle in blauer Einheitskluft à la Metropolis. Oder McDonalds auf Chinesisch?
Regisseur Gustav Rueb lässt die Geschichte an einem Fließband spielen, das aus einem gigantischen silbernen Drachenkopf herauskommt wie eine überdimensionale Zunge (Ausstattung: Alexandre Corazzola). Auf dem Drachenkopf sitzt – ebenfalls in chinesischer Arbeitermontur – der musikalische Leiter, Andrew Hannan, der an einer zweimanualigen Konzertorgel Wersi „Helios“ schuftet, wie in einem alten Horrorfilm, und magische Töne erzeugt, die erfrischend abwechslungsreich und mitreißend klingen. Eine echte Klangbereicherung, die Offenbachs absurden Abenteuerurlaub nach Fernost auf bizarre Weise spiegelt.
Wie in einem alten Horror- oder Scifi-Film startet auch die Handlung. Mit grotesken Bewegungen zu grotesker Musik. Da Rudolph dieses Grundgerüst Offenbachs und seines Librettisten Halévy nicht anrührt und auch das Nonsense-Chinesisch Nonsense-Chinesisch sein lässt, funktioniert alles wie geleckt. Die neue Handlung – dass die Glückskeksfabrikgastarbeiter zurück wollen und hier nicht aus Paris sondern aus Deutschland kommen – passt ebenfalls problemlos zum Grundgerüst. Und ich habe selten so überzeugende und durchgeknallte Darsteller von Operettenextremslapstick erlebt wie das Sängerquartett, das die Neuköllner Oper aufgeboten hat: Nini Stadlmann als furchteinflößende Chefin der Glückskeksfabrik, die zurück nach Oberammergau will, ist köstlich in ihrer verbitterten Einsamkeit (sie kann kein Chinesisch und kann sich entsprechend mit niemandem verständigen, bis sie merkt, dass um sie herum nur verkleidete Deutsche sind, denen sie zur Flucht hilft); Dejan Brkic als machtlüsterner Vorarbeiter ist stimmlich zwar zu wenig auftrumpfend, aber als optischer Typ ideal, der Bassbaritonbösewicht der Handlung – hier aus Bielefeld abstämmig. Zum Schluss wird er in seinem Machthunger erschlagen von den eigenen Glückskekskartons. Das ulkige Liebespaar geben Alexandra Schmidt mit leuchtendem Sopran und großem komischen Spieltalent und der athletische Nikolas Heiber, eigentlich ein Musicalmann von der UdK, der aber den Offenbach-Tonfall erstaunlich sicher trifft, inklusive die berühmten Trompetentöne im Finale. Dieses wiederum wird zu einer raumfüllenden Turnnummer mit Roter-Bänder-Choreographie erweitert. Und ist mindestens so mitreißend wie auf der alten Erato-Aufnahme.
Einziger (!) Einwand
Mein einziger (!) Einwand ist, dass der vom Schauspiel kommende Regisseur scheinbar nicht verstanden hat, dass etliche Nummern bewusste Opernparodien sind: außer Donizetti und Bellini wird besonders Meyerbeer mit seinen pathosgeladenen ‚Hugenotten‘ im Finale saftig recycelt: „Hosanna, mort, je t’aime!“ Diese Parodien sind bei Rueb nicht als gesonderte Moment im Gesamtkontext markiert, werden auch nicht anders gespielt oder gesungen, wodurch ein bisschen der volle mögliche Spaß gebremst ist. Denn es fehlt dem Stück dadurch eine gesonderte Komik-Ebene, die zumindest textlich in Kriss Rudolphs neuem Libretto angelegt ist (es ist eh weitgehend Nonsense-Text wie „tatatatatatatatatata“ oder Tzing! Boum! Ding!“). Und dass bei dieser Traumbesetzung ausgerechnet das alles mitreißende, alles überwältigende Finale eingekürzt wurde, also die zweite Strophe des Revolutionslieds „Ba ta Clan“ (hier der gefürchtete „Tanz des grünen Drachen“) mit den Trompetenimitationen einfach gestrichen ist, schmerzt. Mit dieser Bänder-Choreographie und mit diesem stimmlich wie optisch attraktiven Burlesk-Tenor hätte ich mir auch 20 Strophen angehört. Eine ist definitiv zu wenig!
Unbedingt öfter aufführen!
Die Produktion läuft in der winzigen Studiobühne und scheint den Geschmack des Berliner Publikums getroffen zu haben: sie ist fast immer ausverkauft. Was bei 57 Plätzen auch nicht ganz so schwer ist, zugegeben. Trotzdem. Sie wäre ein idealer Export-Artikel, denn man kann das aus Fließband und Drachenkopf bestehende Bühnenbild leicht in jedes Foyer eines Opernhauses stellen und dort für einen gelungenen Operettengastspielabend fernab aller üblicher (und tödlicher) Walzer- und Champagnerseligkeit sorgen. Schön wäre es auch, wenn diese besondere Fassung – auch wegen der Orgelklänge – auf Tonträger festgehalten werden könnte. Vielleicht als Hörspiel bei Deutschlandradio Kultur und danach auf CD? Andrew Hannan als Master of Ceremonies und Kriss Rudolph haben da jedenfalls eine wirklich gelungene Operettenköstlichkeit zubereitet. Und sich mit Regisseur Rueb vier Darsteller gesucht, die ich gern öfter in Operetten sehen/hören möchte – nicht nur in Einaktern von Offenbach! Es scheint mal wieder, dass die wahre Operettenrevolution, wie zu Zeiten Offenbachs Mitte des 19. Jahrhunderts, von den Minibühnen im Off-Bereich ausgeht. In diesem Sinn kann ich nur sagen: „Allons! En avant le Ba-ta-Clan!“ Dr. Kevin Clarke