Eckhard Roelcke im Gespräch mit Andreas Wicke
Die Geschichte der MEDEA des Euripides ist eine ganz ungeheuerliche Geschichte von Liebe, Verrat, Treulosigkeit und einer unfassbar verzweifelten Rache, die im Mord an den eigenen Kindern gipfelt. Die Geschichte der Königstochter Medea aus Kolchis, die dem Argonautenführer Jason zum Goldenen Vlies verhilft, ihrem Geliebten in die Fremde folgt und dann kippt die Geschichte in Verrat und Reue, Kindesmord.
Sie haben die MEDEA des Euripides in der Inszenierung von Gustav Rueb gesehen am Staatstheater Kassel und darüber wollen wir sprechen jetzt in unserer Frühkritik. Stimmt denn die Geschichte, wie ich sie so im Stenogramm gerafft habe? Stimmt es mit dem überein, was Sie gesehen haben?
Wenn man von Kindesmord spricht, stimmt es. Wenn man vom Mord der Mutter an ihren Kindern spricht, dann geht’s in Kassel etwas anders aus. Denn Jason wähnt am Ende die Kinder tot, aber plötzlich tauchen sie wieder auf, werden mit dem Satz „Die Mama und der Papa sind jetzt wieder leise" ins Bett geschickt. Dann geht Medea zu ihnen nach oben. Man hört einen Schuss. Das zweite Kind weint. Dann geht Jason nach oben, es fallen zwei Schüsse. Am Schluss sitzen die beiden Elternteile etwas verstört auf einer Treppe. Das war zunächst ein sehr ungewöhnlicher Schluss. Der aus einer zeitgenössischen MEDEA-Adaption stammt und uns erst mal etwas verunsichert hat.
Die Artisten nicht unter der Zirkuskuppel ratlos, aber vielleicht doch die Zuschauer im Parkett?
Ja. Aber vielleicht muss man doch ein paar Worte zu dieser Inszenierung sagen. Gustav Rueb verlegt das antike Drama in ein großbürgerliches Milieu. Schauplatz ist also nicht der Vorhof des Palastes in Korinth, sondern eine sehr mondän plüschig gestaltete Hotellobby, wo immer auch das Personal rumwuselt. Was aus der Antike geblieben ist, das ist ein Säule. Allerdings ist sie hier mit dunklem Stoff gepolstert und stützt die große Treppe, die aus dem Salon ins Obergeschoss führt. Dieses großbürgerliche Milieu wird dann auch in den Kostümen durchgehalten. Also MEDEA trägt Paillettentop und Abendkleid. Sie raucht und trinkt. Das Ambiente hat mich immer wieder an Ehedramen á la Ibsen oder Strindberg erinnert. Nun kann man natürlich einhaken, dass ein Mythos per se überzeitlich ist und deswegen eigentlich nicht zwanghaft modernisiert werden müsste. Aber das Tolle an der Inszenierung von Gustav Rueb ist, dass diese Aktualisierung in keinster Weise bemüht oder verkrampft daherkommt. Dass man im Gegenteil sich hin und wieder bewusst machen muss, wie alt dieser Text wirklich ist. An einer Stelle kippt dann die Inszenierung doch etwas ins „Spielfilmhafte". Wenn Medea gerade scheinbar einlenkt, im Hintergrund am Tisch flambiert wird und Jason strippt, während die beiden „Fly me to the moon" singen, da weiß man doch wirklich kurzzeitig nicht, ob hier versucht wird, dem Mythos hier absurde Qualitäten zu entlocken. Auch diesen Schluss vermag ich nicht so ganz eindeutig zu erklären. Will Jason Medea testen? Soll sie glauben, er habe sich erschossen? Auch die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft steht da plötzlich im Raum. Also es bleibt sehr vieles offen und gerade das fand ich, macht einen großen Reiz dieser Inszenierung aus.
Es hat ja eine Tradition, diesen Stoff zu bearbeiten: Die Medea des Euripides – da gibt es … und Grillparzer, Heiner Müller und Christa Wolf, um nur die zu nennen unter vielen anderen. Das sind ja die literarisch Größten – und man kann und man darf natürlich Stoff bearbeiten – aber die Bearbeitung muß natürlich überzeugen. Sie sagen „toll" und Sie haben das fasziniert mitangeschaut. Wer ist denn am Ende tot und wer überlebt? Weiß man das, wissen Sie es?
Also, wir ahnen, dass die Kinder tot sind, weil die Schüsse gefallen sind – und wir sehen, dass Medea und Jason noch leben, weil sie auf der Treppe sitzen … Dann geht das Licht aus.
Ja, was folgt daraus?
Da folgt zunächst draus, dass wir eine Inszenierung gesehen haben mit zwei herausragend guten Schauspielern, also Anke Stedingk spielt eine Medea, die einerseits ganz in dieser mondänen, bourgoisen Welt verhaftet ist, andererseits immer zwischen Hass und Liebe schwankt: Sie ist mit sehr viel Körpereinsatz auf der Bühne und schafft es trotzdem oder gerade deswegen immer wieder ein paar Momente ganz großer und übermächtiger Trauer zu zeigen … auch Enrique Keil als Jason spielt mit dem ständigen Wechsel zwischen äußerem Schein als Lebemann im Smoking und der inneren Verzweiflung in diesem familiären Konflikt – und man merkt bei ihm, dass zwischen einer sophistischen Rhetorik des Euripides und bürgerlicher Verlogenheit dann gar kein so großer Unterschied besteht. Also, die Psychologie der Inszenierung lebt von häufigen Tempo-Wechseln zwischen einerseits einer ganz statuarischen Ruhe und dann doch wieder kleineren und größeren Ausbrüchen … Hinzu kommt das Spiel der Kinder, das völlig unwirklich, ja fast „alien-haft" wirkt – andererseits immer wieder die Perspektive der Verzweiflung unterstreicht - und vielleicht noch einen Blick auf den Chor: Der besteht aus den Hotelangestellten – die oft völlig orientierungslos auf der Bühne herumstehen – und die chorischen Texte gerade nicht im klassischen Unisono deklamieren, sondern die werden sehr vielfältig gestaltet. Das geht von durcheinander gesprochenen Texten, aus denen man nur einzelne Wörter und Fetzen heraushört, über gemeinsam ganz leise eingeflüsterte Passagen, bis hin zu Textfetzen, die von den Choristen übernommen werden.
Also diese MEDEA ist wirklich ganz anders als erwartet – aber so wie ja auch Euripides den Mythos auch nicht nur übernimmt, sondern in seinem Sinne zuspitzt, so ist auch Ruebs Inszenierung eine ganz intelligent gemachte Arbeit am Mythos mit wunderschönen Bildern und vielen wunderbar offenen Fragen – die kann man ja am Muttertag gut diskutieren.