"Bakchen" am Kasseler Staatstheater: Blutige Lust aufs andere Leben
Tragödie zeigt Durchschnittsmenschen von heute
von Bettina Fraschke
Ein Kneipensaal nach einem Fest. Abgenutzte Eiche-rustikal-Möbel, struppige Glitzergirlanden, Müllknäuel am Boden. Man kann die Erwartungen förmlich spüren, die hier noch in der Luft hängen. Durchschnittsmenschen im Billigschick mit Kunstlederhandtasche (Kostüme: Ulrike Obermüller, Bühne: Daniel Roskamp) warten, dösen.
Die ersten zehn Minuten von "Bakchen" am Kasseler Schauspielhaus vergehen im sprachlosen Ausharren. Damit zieht Regisseur Gustav Rueb das Publikum in dieselbe Stimmung hinein wie sein Bühnenpersonal. Eine Mattigkeit, die die Schleuse zu verborgenen Sehnsüchten öffnen kann.
Sehnsucht steht im Zentrum seines sehenswerten Zugriffs auf Euripides' antike Tragödie um den nicht auflösbaren Kampf zwischen Ratio und Rausch, profan und heilig, dem modernen Machthaber Pentheus und dem dunkel lockenden Gott Dionysos. Der kann nur deshalb so erfolgreich sein, zeigt Ruebs überzeugender und viel beklatschter Abend, weil er zielsicher jene Leerstellen im Alltag füllt, die das Profane, das Vernünftige - also: das Moderne - hinterlassen.
Rueb öffnet einen weiten Assoziationsraum, deutet vieles an und nicht alles aus, blickt nicht auf Ethik, sondern auf menschliche Bedürfnisse.
Dionysos' gefeierte Ankunft in Theben, die Festnahme durch Machthaber Pentheus, Dionysos' Trick, den Widersacher den Furien auszuliefern, die ihn im Wahn zerfetzen - allen voran Pentheus Mutter Agaue: All das spielt sich in dieser schäbigen Wirtschaft ab. In diesen matten Nachtstunden voller Erwartung.
Ein Vexierspiel, gekonnt verschieben sich die Ebenen. Zum Beispiel mit dem Gedenkaltar für Dionysos' Mutter Semele. Teelichter, Räucherstäbchen, Kunstblumen: Das sieht aus wie die Spontan-Schreine, die Menschen nach Unfällen am Straßenrand errichten. Ein kleiner heiliger Raum im leeren Alltag. In diesen stößt Dionysos hinein.
Enrique Keil spielt ihn zärtlich, kindlich, wunderbar. Gitarre klampfend säuselt er den Frauen (starkes Trio: Marie-Claire Ludwig, Agnes Mann, Frank Richartz) ins Ohr, erweckt die Sehnsüchtigen, wandelt sie in die Bakchen (Dionysos heißt auch Bacchus, Bakchen sind seine den Rausch feiernden Anhängerinnen).
Dionysos weiß auch, wie er Pentheus (ein von Klarheit umströmter, toller Daniel Scholz) gewinnt. Umgarnt ihn mit einer erotischen Wucht, dass der nicht mehr weiß, ob er Männlein oder Weiblein ist. Ein langer Kuss und der Mann ist verzückt. Endlich fremd werden dürfen. Endlich außerordentlich - außer der Ordnung.
Auch die Nebenfiguren: verführbar, verführt. Uwe Rohbeck als Teiresias, Jürgen Wink als Kadmos, Aljoscha Langel und Uwe Steinbruch als Boten. Durchschnittsmenschen brechen aus. Am besten in Frauenkleidern.
Anke Stedingk als Agaue ist so eine Frau, die bei Partys allein tanzt. Dionysos holt sie ins Licht, macht sie zum Instrument seiner Rache. Nachdem sie ihren Sohn zerfetzt hat: schockhafte Ernüchterung. Zigarette, der Körper verkrampft, die Augen aufgerissen. Wieder klar sehen.
Am Ende zieht sich Dionysos zurück, spürt seine Anziehung schwinden. Literweise Kunstblut sind verschmiert, der Boden ist rutschig. Man streift Rock und Bluse über die besudelten Körper. Jetzt regiert nur noch der Schrubber.