Frankfurter Rundschau

Alle Macht den Drogen 

von Joachim F. Tortnau 

Der letzte Rausch ist gerade vorbei. Im Hinterzimmer der Kneipe mit ihren blinden Spiegeln, holzvertäfelten Wänden und gekachelten Säulen hängen noch einige Girlanden, bedecken zerplatzte Luftballons den Boden. The party is over. Die Frauen aber, die stumm durch den schäbigen Saal stöckeln, sind weniger verkatert als gelangweilt. Als erwacht, was bis dahin zusammengerollt in einer Ecke gelegen hat, ein nacktes, am ganzen Körper weiß geschminktes, wie außerirdisch wirkendes Riesenbaby, nähren sie es buchstäblich an ihrer Brust. Ein neuer Kick, endlich. Sein Name: Dionysos. Sein Versprechen: Geilheit, Glück und Göttlichkeit. 

Es dauert lange, ehe in den "Bakchen" des Euripides, wie sie Gustav Rueb jetzt auf die Bühne des Kasseler Schauspielhauses gebracht hat, das erste Wort gesprochen wird. Nur der Geldspielautomat rattert und klingelt gelegentlich. Allein dieser wunderbare Auftakt würde schon die Fahrt nach Nordhessen lohnen. Doch der Inszenierung geht auch danach die Luft nicht aus. 

Die antike Tragödie um den Gott des Rausches, des Weins und der Fruchtbarkeit, der für seine Missachtung durch Thebens Machthaber Pentheus blutige Rache nimmt, hat Regisseur Rueb auf knappe zwei Stunden verdichtet. Aus dem 2400 Jahre alten letzten Drama des griechischen Tragödiendichters wird hier eine zeitlose Erzählung von der Macht des Rauschs. Von seiner befreienden wie seiner zerstörerischen Kraft. 

Dionysos alias Bacchus (stark: Enrique Keil) könnte eine moderne Partydroge genauso sein wie religiöser Fanatismus. Einer gelangweilten Gesellschaft kommt er gerade recht: Nicht nur die Bakchen - bei Euripides die auch sexuell entfesselten Jüngerinnen des Rauschgotts - erfasst er, sondern alle. Männer meinen, aus der Ordnung ausbrechen zu können, wenn sie sich in Frauenkleider hüllen und dem Kult anschließen. Selbst Pentheus (Daniel Scholz), der diese Un-Ordnung eigentlich mit allen Mitteln bekämpfen will, kann sich der Anziehungskraft schließlich nicht mehr entziehen - und fällt ihr zum Opfer. 

Der Kneipensaal (für den Bühnenbildner Daniel Roskamp ein dickes Sonderlob gebührt!) wird zum blutbesudelten Schlachtfeld. Und grausam ist das Erwachen, das Erkennen. Die Party ist vorbei, wieder einmal. Dionysos muss dem Kater weichen - der Rausch hat seine Schuldigkeit getan, der Rausch kann gehen. Aber der nächste kommt bestimmt.