Kulturmagazin

Theaterrausch 

von Bettina Damaris Lange 

Die Bühne schweigt. Es ist ein Schweigen, so süß und angenehm, dass es auch ein Genuss wäre, das komplette Stück als Schweigestück zu erleben. Die Atmosphäre ist zum Schneiden dicht, das Bühnenschweigen spricht Bände. Die Bewegungen sind vorsichtig, fast unauffällig und doch scheint es, als würde jeder Schritt, jeder Griff die Welt aus ihren Angeln heben. Auch wenn es „nur“ die Mänaden (Frank Richartz, Agnes Mann, Marie-Claire Ludwig) sind, die die Bühne mit ihrer angenehmen Stille bevölkern, so steckt in ihrer schlichten und dezenten Anmut bereits jene Göttlichkeit, die der Thebenherrscher Pentheus (Daniel Scholz) ihrem Anführer Dionysos (Enrique Keil) um nichts in der Welt zugestehen will. Stunden könnte man in der Beobachtung dieser Stille verweilen. Regisseur Gustav Rueb läßt seine Protagonisten ganze Wasserfälle erzählen, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. 

In Ewigkeit gemeißelt 

Worte sind hier auch nicht wichtig. Als der blinde Seher Teiresias (Uwe Rohbeck) als erster das stimmgewaltige Schweigen mit einem krächzenden „Kadmos" bricht, könnte er auch jeden anderen Ton von sich geben. Es ist egal, denn das Geschehen auf der Bühne steht für sich, als wäre es in die Ewigkeit gemeißelt. Frauen, so zeitlos und leer, gleichermaßen gesättigt vom Leben und doch in der Erwartung dessen verharrend, was da geschehen wird. Das Leben fließt. Ein weißer Körper kauert in einer Ecke. Nackt, bleich und fahl. Ein Halbgott erwacht zum Leben und reißt die Anwesenden aus ihrer tätigen Fülle an Lethargie. (...) 

Rausch an Poesie 

Doch es gibt auch noch ein anderes Prinzip, das diese Theaterbühne regiert. Die Vernunft in der Person des Pentheus sieht es als seine Aufgabe an, das dionysische Treiben in die Schranken zu weisen. Der mächtige Halbgott landet im Kerker und wird für Regisseur Gustav Rueb und Bühnenbildner Daniel Roskamp zum Anlass eines Rausches an Poesie, wie sie überhaupt die gesamte Inszenierung durchzieht. Wie durch ein Fenster erblickt man den Kämpfer für Wonne und Lust im hinteren Teil der Bühne. Regen prasselt auf den um Hilfe rufenden Gefangenen wie ein sanfter Liebesrausch. Dionysos befindet sich in einer schwierigen Lage, doch keine Lage ist hier schwierig genug, um nicht auch eine sinnliche Seite zu haben. Dionysos kommt frei, doch Pentheus gibt nicht auf. In Frauenkleidern mischt er sich unter die Bakchen, um schon bald von seiner eigenen Mutter Agaue (Anke Stedingk) zerfleischt und in tausend Stücke gerissen zu werden. Liebesakt oder Tötungsdelikt? Die Übergänge sind hier fließend, Lust und Schmerz feiern ihre Vereinigung in einem der berührendsten Momente des ganzen Stückes. Zu der sehnsüchtigen Singstimme eines verliebten Italieners schmettern die Mänaden ihre Todesschreie in einem Sprechchor, der bis auf die letzte Millisekunde stimmt, bis das „Tier“ erlegt ist. Sich in ihrer eigenen Wonne suhlend, kosten sie jede Sekunde dieser Lebenssequenz. Was danach folgt, ist Freudentaumel, der jedoch, wie jeder Rausch, nur eine begrenzte Zeit genossen werden kann. Am Ende herrscht wieder Leere, diesmal eine bedrückende Leere. Bis zur nächsten Party. 

Punktgenau 

Gustav Rueb ist eine Inszenierung gelungen, deren Atmosphäre die tiefste Faser des entlegensten Theatersessels im Saal erreicht. Seine Bühnencharaktere sind Persönlichkeiten, die mit Würde zu ihrem Schicksal stehen. In dieser Inszenierung stimmt einfach alles. Es ist eine Komposition aus punktgenauen Chören, sparsamer, aber perfekt gewählter Musik, poetischen Bühnenbildern, die wie Filmsequenzen wirken, präsenten Schauspielern (in weiteren Rollen: Aljoscha Langel, Jürgen Wink, Uwe Steinbruch) und wirkungsvollen Kostümen (Ulrike Obermüller). Zu dem handwerklich perfekt arrangierten Bühnenspiel gesellt sich noch etwas, was mit Worten einfach nicht mehr zu beschreiben ist: Das Stück ist in einen Zauber gehüllt, der einen tief ins Herz trifft. Man erlebt es nicht alle Tage, dass eine Theaterinszenierung einen solchen Zauber versprüht. Gustav Rueb muss ein begnadeter Regisseur sein. Allen Beteiligten gilt Hochachtung für eine künstlerisch extrem niveauvolle Theaterleistung!