Verstörende Orgie in Dreck und Blut
Gustav Rueb inszeniert die "Bakchen" des Euripides im Schauspielhaus Kassel
Von Michael Schäfer
Griechenland gilt – nicht zu Unrecht – als Wiege der abendländischen Kultur. Doch die Tragödie „Die Bakchen“ des Euripides hat mit geläufigen abendländischen Werten nicht viel zu tun. Das hat Gustav Rueb in seiner verstörenden, faszinierenden Inszenierung am Schauspielhaus Kassel eindringlich gezeigt.
Kaum etwas rührt sich. Drei Frauen halten sich in einer Kneipe auf, die übersät ist mit den schäbigen Resten einer nächtlichen Fete. Die Frauen gehen zum Spielautomaten, zur Musicbox, die nicht funktionieren will, setzen sich. Stille. Irgendwo ganz hinten hört man Krähen krächzen. Fängt das Stück überhaupt einmal an? Doch, wenn auch langsam. Ganz hinten wird eine weitere Frau sichtbar, vorn links liegt völlig reglos etwas am Boden. Eine Puppe? Falsch: ein nackter Mann, der Körper weiß bemalt. Er robbt sich durch den Raum, kommt auf die Beine, macht kindisch-unbeholfene Bewegungen, stößt unartikulierte Laute aus. Ein Riesenbaby? Nein: ein kurzer Griff in den Mund, die Zunge ist frei, er spricht: Es ist Dionysos. Ein Gott, zuständig für Rausch, Orgie, für das Geschlechtliche sowohl auf Mannes- wie auf Frauenseite, geboren einmal von der Mutter, ein zweites Mal aus der Wade des göttlichen Vaters Zeus, der ihn dort versteckt gehalten hatte. «Kontrast zur Stille »Beinahe quälend langsam entwickelt Regisseur Rueb dieses Entree, um im Kontrast zu der lethargischen Stille einen ersten Eindruck von den Ritualen des Dionysos zu entwerfen: zu dröhnender Musik tanzt der Gott mit seinen Gefährtinnen, den Bakchen, sich eng und heiß ineinander verschlingend. Gegen diese tief ins Archaische weisende Götterwelt setzt Euripides mit dem Herrscher Pentheus einen ausgesprochen skeptischen Menschen als Gegenspieler. Doch die Auseinandersetzung zwischen Gott und Mensch endet furchtbar: Dionysos lässt Agaue, des Pentheus Mutter, mit eigenen Händen im Kithairon-Gebirge ihren Sohn zerreißen – im Wahn, er sei ein wildes Tier. Pentheus muss geopfert werden. Rueb lässt kaum etwas aus, um das Furchtbare ins Bild zu setzen. Braun und rot, dreckig und blutbeschmiert sind die Körper der handelnden Personen, die Mühe des Tötens wird fast körperlich spürbar. Und Bühne wie Körper sind am Ende gleichermaßen glitschig. Doch ist diese Orgie kein Selbstzweck. Die Verstörung setzt Gedanken frei: Sie kreisen um das geschönte Bild der Antike in der Rezeption spätestens seit der Weimarer Klassik, um das Verschweigen des Elementaren, Triebhaften in der antiken Kultur, das ins edle Bild einer sogenannten humanistischen Erziehung nicht recht passen will. «Sehr fremd, sehr fern »Enrique Keil als Dionysos ist grandios in Körpersprache und Präsenz, Daniel Scholz als Pentheus anrührend schwach und verführbar. Die verblendete Naivität, mit der Anke Stedingk als Agaue die Tötung ihres Sohnes erzählt, geht unter die Haut. Stimmig fügen sich die übrigen zum sehr fremden, fernen Bild, das uns – in der perfekten Trostlosigkeit der Bühne von Daniel Roskamp – schaudern macht. Nicht zuletzt deshalb, weil unsere Wurzeln dennoch in eben dieser Welt liegen.