Othello – Staatstheater Darmstadt – Gustav Rueb knüpft mit Shakespeares Drama an aktuelle Rassismus- und Sexismusdebatten an und findet ein überraschendes Ende
Jedermanns Beißreflex
von Georg Kasch
Darmstadt, 14. September 2019. Was ist die "Schwarze Schmach"? Brabantio, der gemeinsam mit Rodrigo Flugblätter verteilt "zum Schutz unserer Heimat, Bevölkerung, Frauen und Kinder", macht nur schwiemelnde Andeutungen. Auf den Zetteln ist zu lesen: "die unerhörte Demütigung und Vergewaltigung einer hoch kultivierten weißen Rasse durch eine noch halb barbarische farbige". Die Propaganda ist echt: Als nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet zwischen Mainz und Darmstadt von französischen Truppen besetzt war, nutzten Rechtsnationale den Umstand, dass viele Soldaten schwarz waren, für erfundene Vergewaltigungen und Morde.
So denken und reden Menschen
Womit wir schon mitten drin sind in Gustav Ruebs "Othello"-Inszenierung am Staatstheater Darmstadt. Aus der wilden Übersetzung, die Feridun Zaimoğlu und Günter Senkel einst für Luk Percevals legendären Münchner Kammerspiel-"Othello“ von 2003 angefertigt haben, Versen Wolfgang Heinrich Graf Baudissins und eigenen Improvisationen haben Rueb und Dramaturgin Karoline Hoefer eine explosive Fassung erstellt. Jago und Rodrigo ätzen über den "Schoko", jeder Gegner ist grundsätzlich schwul und Frauen sind zum vögeln da. "Muss das sein?", fragt eine ältere Dame in der Pause. Ja. So reden, so denken Menschen. Es ist anstrengend, sich dem auszusetzen. Aber es kommt der Realität erschreckend nahe. Man muss sich nur mal in die S-Bahn setzen und zuhören.
Rueb und sein Team nutzen die ganze, nahezu leere Bühnentiefe – Daniel Roskamp hat ein Wasserbecken auf die Drehbühne gestellt und viele weiße Plastikstühle drumherum –, eine Geschichte von Heute zu erzählen und dabei an aktuelle Rassismus- und Sexismusdebatten anzuknüpfen. Othello ist eine Planfigur im Postengeschachere einer Frankfurter Vorstandsetage mit Blick über die City. Auf Zypern ist es nur am Pool erträglich – über allem brennt ein großer Sonnenball, der wahlweise als Leinwand dient für die Kamera, die im Schnürboden hängt und die Bühne aus der Vogelperspektive zeigt. Oder aber für Rodrigos Handy, das ihn als dummrechten Trottel entlarvt. Schlimmer sind nur die Wendehälse. Kaum hat Othello seinen bis dahin ergebenen Leutnant Cassio degradiert, wird auch er rassistisch ausfällig.
Banker und Ausputzer
Kein Wunder, dass Ernest Allan Hausmanns Othello irgendwann vor Paranoia austickt. Eigentlich ist er ja ein cooler Typ, sich seiner Macht und Position bewusst, zugleich ein witziger Erzähler, knuffig. In Darmstadt geht er Jago letztlich auf den Leim, weil seine Position fragil ist und der Rassismus um ihn herum sein psychisches Immunsystem zerfetzt. Aber auch, weil Macher wie er glauben, einen wie Jago zum Ausputzen zu brauchen.
Und das, wo Thorsten Loeb einen äußerst unangenehmen Zeitgenossen spielt, den Prototypen des Spießers, keinen Verführer, sondern einen Jedermann mit Beißreflex. Einmal kommt er als Wutbürger von Nebenan auf die Bühne mit Kassengestell und grauem Blouson. Einer, der nie den ganz großen Wurf gelandet hat und seine Unzufriedenheit in ungebremstem Elitenhass und Rassismus kanalisiert. Dabei kann er auch Ironie, eine bitterböse: "Desdemona ist jetzt unser aller Befehlshaber – Sternchen in."
Genderdebatte
Überhaupt die Genderdebatte: Bei Rueb wird sie neben dem Rassismus zum zweiten Schlachtfeld. Marielle Layher wirkt als Desdemona nicht, als ob sie sich von irgendwem erwürgen ließe. Lässig und stolz fertigt sie erst ihren Vater, dann mehrfach Jago ab, um am Ende, wiewohl ernsthaft angekratzt, Othello körperlich und verbal Paroli zu bieten. Einmal schlendert sie auf die Bühne und bekundet, dass jetzt der perfekte Moment für einen Monolog wäre, den ihr aber keiner der Autoren geschrieben habe. Also macht sie aus dem offenen Reißverschluss ihres Kleides eine hinreißende Nummer zwischen Slapstick und Ausdruckstanz.
Von solchen Szenen, die Witz und Verstand vereinen, gibt es etliche, hübsch böse Kommentare über Abonnenten und Provinzler inklusive. Vor allem aber hat Rueb mit den Schauspieler*innen genaue Rollenprofile erarbeitet, die einen über die gut drei Stunden locker bei der Stange halten. Hubert Schlemmers Brabantio ist ein heruntergekommener Kleinbürger, Béla Milan Uhrlaus Rodrigo ein Junggesellenabschied auf zwei Beinen. Herrlich, wie Daniel Scholz' Cassio bedröppelt seine abgerissenen militärischen Abzeichen wieder aus dem Müll fischt. Erwin Aljukić herrscht als Banker-Herzog mit kalten, präzisen Blicken. Judith Niederkoflers Emilia ist ebenso selbstbewusst wie Desdemona; die Nummer, in denen die beiden in die Kamera hinein über die Männer herziehen, hat allerdings schon fast was Operettenhaftes.
Kann so viel kritisches Bewusstsein im Blutbad enden? Nicht in Darmstadt. Othello hat zwar schon die Hände an Desdemonas Hals, ringt mit ihr im Wasserbecken, dass es nur so spritzt. Dann aber kommt ein kleines Mädchen, nimmt beide mit raus auf den sonnigen Theatervorplatz, eine glücklich lachende Familie. Die letzten Sätze hat nicht Shakespeare, sondern Achille Mbembe: "Es gibt nur eine Welt. Sie gehört uns allen gleichermaßen." Ob es uns gelingt, die Konsequenzen zu ziehen?