Mitte im Untergangsrausch
Uraufführungen in Berlin und Heidelberg: Thomas Ostermeier inszeniert Maja Zades «abgrund» an der Berliner Schaubühne, Gustav Rueb eröffnet mit Ulrike Syhas «Drift» (der Stückabdruck liegt diesem Heft bei) den Heidelberger Stückemarkt.
Theater heute, Juni 2019, von Eva Behrendt
Wenn die Küsten verstädtern
Manchmal kaufen Leute wie Bine und Stefan, Matthias und Bettina auch ein Grundstück mit Ferienhaus auf dem Land. Vielleicht sogar in einem scheinbar idyllischen kleinen Ort an der Nordseeküste, wie ihn Ulrike Syha in «Drift» beschreibt. Wahrscheinlich würden sie sich wie die typischen Städter, über die gleich zu Anfang der gewiefte Bürgermeister lästert, sehr schnell über den Mief beschweren, der von der ortsnah gebauten Kläranlage durch ihre Gärten zieht. Darüber, dass der Mann sie mit seinen Schnäppchenpreisen in die Falle gelockt hat. Und sie würden feststellen, dass auch in der Idylle ein Abgrund lauert.
«Drift», das im vergangenen Jahr den Preis des Heidelberger Stückemarkts gewann, beginnt als fast ordentlicher Krimi mit einer Beerdigung, doch der scheinbar Unfalltod der Hotelerbin der «Strandperle», gleichzeitig Ex-Frau des zugezogenen Architekten Friedrich, ist für Ulrike Syha nur einer von zwei roten Fäden, anhand derer sie den Mikrokosmos Dorf entfaltet. Almuth und Agatha, zwei der drei älteren Damen am als «Mitte der Gesellschaft» apostrophierten Frauenstammtisch im «Seekrug», würden gern mehr als nur einen Unfall dahinter vermuten, zumal auch noch der Geschäftsführer und Lebenspartner der Toten verschollen ist, aber so richtig will Claire, die dritte, nicht mitziehen. Den anderen Faden durch Stück wie Dorf legt die «Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte», ebenfalls eine Ex von Friedrich, die, auf der unbestimmten Suche nach etwas, Stationen ihrer Vergangenheit abklappert.
Dabei porträtieren sowohl die «Seekrug»-Gespräche als auch die Tour der Heimkehrerin eine Gesellschaft zutage, die sich gegen die eigene ökonomische, soziale und ökologische Verstädterung stemmt, an ihr jedoch selbst massiven Anteil hat. Angefangen bei hochkomplexen Patchworkfamilienverhältnissen, deren sukzessive Entschlüsselung zu den denksportlichen Herausforderungen des Stücks zählt, bis zu den eigenen Jobs und Besitzprojekten. «Nestbau ist Aggression. Familie ist Aggression. Jede Form von Cluster-Bildung ist Aggression», behauptet «Er», der sich gegen diese Welt und Doppelmoral auflehnende «leibliche» Sohn des Architekten, der mittlerweile lieber beim Bürgermeister, seinem Stiefonkel, wohnt.
Untergangsbesoffen
Die «Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte», besucht nacheinander ihren makelnden Onkel (der Bürgermeister), ihre misstrauische Mutter (die Hobbygärtnerin), ihre schwangere Schwester (die Frau des Strandwarts) kurz vor dem Umzug ins Neubaugebiet («der allerallerletzte Umzug in meinem Leben.» – «Du bist siebenundzwanzig.») und ihren Schulfreund (der Sohn des Kaninchenzüchters): Lauter Lebensläufe, aus denen ihr der (un-)ausgesprochene Vorwurf entgegenschallt, sich abgeseilt zu haben, desertiert zu sein. Nun auch noch aus der Ehe mit Friedrich.
Im «Seekrug» wirken alle heiter untergangsbesoffen – Klimawandel, Migrationswellen, Artensterben, Terror, das volle Programm in Nebensätzen, wobei die Meinungen über die Ursachen weit auseinander gehen. Während der Architekt vor dem steigenden Meeresspiegel warnt, prophezeit Agathe: «Du wirst Dich noch umschauen, Johann. Wenn alle zivilisatorische Ordnung, wie du sie kanntest, in ihre Einzelteile zerfallen ist. Wenn unser Wertekanon tief in den Fluten dieses Ozeans vor unserer Haustür begraben liegt. (…) Für den Untergang der Welt braucht es nämlich nicht Friedrich und seine wilden Theorien. Dazu braucht es lediglich einen steten, nicht mehr abreißen wollende Strom von Menschen.» Wenig später optieren die Ladies für eine «Bürgerwehr».
Dieser Aspekt der schleichenden Drift ins Rechtsradikale kommt bei der Heidelberger Uraufführung, die gleichzeitig den diesjährigen Stückemarkt eröffnete, fast etwas zu kurz. Dafür tariert Gustav Rueb die bei Ulrike Syha angelegte Balance zwischen ernsthafter Gesellschaftsstudie und Farce-Elementen sorgfältig aus: Während Peter Lehmanns «Seekrug»-Terrasse eher auf einem osteuropäischen David-Lynch-Set stehen könnte (das auch im Soundtrack zitiert wird), führen leicht surreale Videosequenzen «die Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte» durch aufgeräumte Gärten und stilbefreite Interieurs. Das Ensemble hat zwar jede Menge klimabedingten Sonnenbrand aufgetragen, unterspielt aber die potenziellen Provinz-Karikaturen souverän in ihren Doppelrollen in Film und Theater. Christina Rubruck, Elisabeth Auer und Nicole Averkamp legen dabei die Golden Girls als konservativ-komische Nordseestrandcombo wieder auf, Daniel Noel Fleischmann gibt einen überspannten Patchwork-Tennisschüler, und Olaf Weißenberg spricht seine stabile Kellner(in) in Frauenkleidern mit derselben cool-verrauchten Bassstimme wie den Bürgermeister im One-Man-Office. Nur Marco Albrecht, der Architekt in Knitterleinen, wirkt in seiner linksliberalen Vernünftigkeit schutzlos auf weiter Flur.