Kasseler Stadtmagazin

Viermal Eins ist Eins

Von Juliane Sattler-Iffert

Raus aus dem tif auf die Straße. Eine offene Tür, ein anderer Eingang, vorbei an einer glitzernden Zirkuskasse. Der Raum ist dunkel. Geisterfahrt. Zwei Clowns laufen herum, mit großen Mündern und großen Füßen. Wir sitzen auf Klappstühlen, hocken uns auf den Podiumrand, andere stehen, nicht gerade bequem. Allmählich gewöhnen sich unsere Augen an das Licht. Vier Männer wie geklont, dunkle Anzüge, blonde Perücken, beginnen zu sprechen. Viermal Eins ist Eins. Francois ist gleich viermal auf der Bühne, mit unterschiedlichem Alter.

Francois, das ist die Hauptfigur aus dem Buch von Houellebecqs „Unterwerfung“: ein Intellektueller Mitte 40, Professor an der Sorbonne. Einzelgänger mit Frauenverschleiß. Müde ist er dabei geworden und verloren, sein Leben in Einsamkeit und Ichbezogenheit verhaftet, wo ist sein metaphysischer Halt? Am Kasseler tif wird jetzt der 2016 veröffentlichte Roman aufgeführt. Ein Werk, das wie kein anderes mit genüsslich scharfsinnigem Blick den Untergang des Abendlandes seziert hat. Die hochentwickelte westeuropäische Gesellschaft am Abgrund, im Überfluss erstarrt. In diesem Roman unterwirft sich Frankreich auf politisch legale Weise der Herrschaft einer muslimischen Partei, die das Land von einem aufgeklärten Staat in einen patriarchal geprägten mit Vielweiberei verwandelt.

Gustav Rueb hat aus dem 270-Seiten-Konvolut die Bühnenfassung erstellt. Eine intelligente Umsetzung, die vieles weglässt und dadurch verdichtet, die weniger aktuelle Politische-Fragen und Islamophobie fokussiert, sondern das Dilemma des westlichen Wohlstandsbürgers vorführt: keine Mitte mehr, kein Glauben. Verführbar sind wir alle geworden.

„Unterwerfung“ ist das Stück der Stunde, landauf, landab wird es gespielt. Kassel macht es gut. Rueb hebt mutig die Zweiteilung von Publikum und Theater auf, schickt die Zuschauer auf die Reise. Wir sind mitten drin im Spiel, in dem Raum mit den vielen Ein- und Ausgängen, manchmal laufen wir den Schauspielern hinterher. Und wenn wir nach einer halben Stunde in den eigentlichen tif-Raum (Bühne und Kostüme: Susanne Priebs) geführt werden, sind wir plötzlich getrennt. Die Männer stehen auf der Bühne hinter dem Gazevorhang, die Frauen sitzen gegenüber im Zuschauerraum. Im Koran heißt es: „Wenn ihr die Frauen des Propheten um etwas bittet, so tut das hinter einem Vorhang!“

Viermal Eins ist Eins: die vier Schauspieler Hagen Bär, Christian Ehrich, Aljoscha Langel und Stephan Schäfer grübeln, räsonieren, diskutieren, mal einzeln und mal chorisch. Ein Spektrum von Emotionen und Selbstbetrachtungen: über die Literatur und den nimmermüden Penis, den Hautausschlag, die gescheiterte Ehe und all die Liebschaften, die Kirche und den Glauben. Denn Francois sucht inzwischen im Kloster Halt. „Seht Eure Söhne, die ihren Glauben verloren haben“, singen die Vier: Liturgische Sprechgesang zur Musikcollage von David Rimsky-Korsakow. Im Hintergrund leuchtet das Kreuz des Chistentums, später wird an die tif-Wand der Halbmond des Islam erscheinen, und der Raum sich in Sternenstimmung drehen. Kitschig-schön ist das.

Da ist Francois zum Islam konvertiert. Rückkehr zum Patriarchat, Tendenzen sind heute erkennbar, Houellebecq ist auch ein wenig visionär. Die Schauspieler sind jetzt zusammengerückt, einer Körper-Installation gleich. Wie sie diesen 100-Minuten-Abend gefüllt haben, eine Einheit im Spiel ihrer erlösungsbedürftigen Figur und doch immer auch einzeln, individuell, verdient Applaus. Stürmisch ist er zur Premiere.