Ihr Schloss steht am Dichterstrand dicht an der Sihl. Dort lebte sie Seite an Seite mit Joachim Ringelnatz, mit Morgenstern, Kästner, Karl Valentin und auch mit Wilhelm Busch. Wer Erica Hänssler sah, alterslos bis zum Schluss, wer mit ihr sprach, traf auf ein Wesen, das sich selber geträumt zu haben schien.
Poeten, Puppen, Gespenster
Sie teilte ihr Wohntheater am Fluss mit den Poeten, denen ihr Herz gehörte, und mit anderen Geistern, Puppen, Masken, Figuren, Gespenstern, den Geschöpfen ihrer Phantasie. «Manchmal ist das ganze Haus ein Murmeln», sagte sie. Werkstatt, Wohnung, Kulissenlager in einem ist dieses Haus, das «Haus der Feen und Faune», die Tische tragen Schuhe, und es ist bei Strafe verboten, kein Kind mehr zu sein.
Besucher werden von riesigen Seifenblasen empfangen und wandern hier durch Hänsslers Räume und Leben, um das alte Staunen wieder neu zu entdecken. Am Zürcher Sihlquai 252 steht Erica Hänsslers Erbe, sie hat es vom Abbruchobjekt in ihr Denkmal zu Lebzeiten verzaubert.
Sie nähte, hämmerte hier ihre Requisiten oder gab alten auf der Bühne des Theaters Stock eine neue Identität. «Spiel, Bild, Kostüm, Textbearbeitung, Musik: Erica Hänssler», hiess es dann. Und Hänssler spielte magisches Theater in dem eigenhändig ausgemalten Barockgewölbe am Hirschengraben – ein Ort der Philosophen und der Poeten, der Originale.
Ohne Zbignew Stok (1924–1990), den polnischen Theateremigranten, kein Theater Stok. Ein Förderkreis um Emil Landoldt, Adolf Muschg und andere hatte sich dafür eingesetzt, dass Stok 1970 am Hirschengraben in einem stadteigenen Keller eine eigene, feste Bühne bekam. Erica Hänssler, in Zürich aufgewachsen, war von Beginn weg als Schauspielerin dabei, nach Stoks Tod mit halbem Geld, ohne Ensemble, aber mit doppeltem Elan.
Und unterstützt von ihrem Lebenspartner Peter Doppelfeld. Das kleine Theater wurde ihre literarisch-philosophische Werk- und Wirkungsstätte, mit einer Fülle von Eigenproduktionen von unverwechselbarer Handschrift und berstend von gesamtkünstlerischer Gestaltungsenergie.
Unvergessene Aufführungen
Unvergessen die «Blaue Stunde» in Erinnerung an Else Lasker-Schüler oder «Teufelsgeschichten» nach Willem Flusser. Ein Ereignis, wortwörtlich ihr «Märchen vom letzten Gedanken», nach dem Roman des Shoah-Überlebenden und vielfach ausgezeichneten Edgar Hilsenrath. Der Autor und Alfred-Döblin-Preis-Träger selbst war im Publikum anwesend, als die Hänssler spielte, und sie spielte, indem sie nach Karl Kraus die Fackel hochhielt – sie bekannte Persönlichkeit, nicht Farbe.
Sie lebte im Theater Stok und in ihrem Theatermuseum in der ehemaligen Fabrikantenvilla ein Theaterleben, das ein Lebenstheater war aus Groteske, Satire und Märchen.
Doch was sich leicht sagen lässt, war harte Arbeit. Nicht umsonst gab Erica Hänssler bereits Mitte der neunziger Jahre einer Spielzeit das Motto, nach Busch: «Besonders tief und voll Empörung / fühlt man die pekuniäre Störung.» Doch ob von der Stadt mit einem Butterbrot oder einem Brot ohne Butter unterstützt, die Künstlerin war zu sehr Realistin, um nicht Träumerin zu sein.
Jetzt ist Erica Hänssler im Alter von nur 68 Jahren ihrem Krebsleiden erlegen. Zürich verliert mit ihr eine Persönlichkeit und das Theater eine Fee der Phantasie.
Daniele Muscionico, NZZ, 13.1.2016