Wenn es im Theater um das Thema Emanzipation geht, steht Henrik Ibsens ›Nora‹ an erster Stelle. Wenn es um sensible Frauenfiguren geht, kommt Gustav Rueb gerade recht: Nach einer fulminanten ›Endstation Sehnsucht‹-Inszenierung in Lübeck folgt nun erneut ein starker Abend des Regisseurs. Peter Lehmann hat an der Rampe der Kammerspiele eine zweistöckige Puppenstube gestellt, die alle Enge bürgerlichen Lebens mit ihren Verschachtelungen zeigt. [...] Das ist die eine Idee, die diese Inszenierung so beeindruckend macht. Die andere bringt Gustav Rueb ein: Er formt jeder der fünf Akteure zu einem Prototyp des psychologischen Naturalismus. Jeder verbirgt seine Lebenslüge so gut er kann, er rappelt - und zappelt doch in ihrem Netz. [...] Ruebs ausnehmend sorgfältige Detailarbeit macht die Spannung und das Überwältigende dieser zwei Stunden aus. Torvald und Nora Helmer leben längst nebeneinander her, ohne es sich einzugestehen. Wie Agnes Mann nun das offene Wesen der Nora von Liebe und Abhängigkeit über skeptische Furcht in die Stärke der Erkenntnis wandelt, hat nichts fundamental Aggressives, sondern basiert auf Herz und erwachsener Einsicht - eine berührende Interpretation. Ebenso wenig plakativ setzt Jan Byl den Torvald Helmer ins Rampenlicht. Versehen mit den Attributen des kleingeistigen Karrieristen, meistert er den Spagat zwischen privaten Herrschaftsansprüchen und öffentlicher Saubermann-Attitüde mit einer auch im Timbre frappierenden Ausdrucksskala. Als Doktor Rank vertritt Thomas Schreyer [...] die Position des Flattergeistes ebenso grotesk wie Charlotte Puder die der hysterischen Freundin Kristine.«