Ruebs großartige Inszenierung von Schillers Drama
„Die Jungfrau von Orleans“ im Kasseler Staatstheater entwickelt sich zum Publikumserfolg der Spielzeit.
Blut und Erde oder auch Schmutz, das sind die Elemente mit denen Gustav Rueb den Säulen des Kanons zu Leibe rückt, um sie erfrischend lebendig oder provozierend anders auf die Bühne zu bringen.
In Sachen Optik ist seine Inszenierung von Schillers Jungfrau von Orléans ein typischer Rueb (Bühnenbild Florian Etti, Kostüme Ulrike Obermüller), der sich in entsprechenden Szenen nahtlos an seine Kassler Produktionen der vergangene Jahre anschließt. Doch unter der düsteren Schicht verbirgt sich eine Aufführung, die auch Traditionalisten überzeugen wird. Auch wenn sie die Freunde von möglichst viel Aktion auf der Bühne zunächst einmal mit viel längst überholt geglaubtem Deklamationstheater vor den Kopf stößt[, bzw. sich von Schillers Rhetorik überwältigen lässt, dessen Sprachmaterial sich als zunächst als ziemlich widerstandsfähig erweist].
Die Exposition bleibt überwiegend statisch und steht damit für das Milieu aus dem die Schäferin Johanna mit dem Anspruch „Eine andere Herde muss ich weiden“ ausbricht. Eine stille Szene, in der Johanna (Eva-Maria Sommersberg) ein Kreuz an die Rückwand malt, markiert den Kontrast zum anschließenden Wortschwall, der dem für die Vorgeschichte und Schlachtenbeschreibungen zuständigen Boten (Christoph Förster) ebenso wenig Atempausen oder Bewegungsfreiheit lässt wie Thibaut d'Arc (Jügen Wink), dem potenziellen Verlobten Raimond (Bernd Hölscher) oder der Titelfigur.
Zentraler Umschlagspunkt beim Wandel von der Schäferin zur Kriegerin ist das an die Rückwand projizierte blutige Abendmahl, das sich die zu junge Johanna selbst spendet. Die Videoeinspielung ist unübersehbar vom seinerzeit (1999) als provokativ empfundenen Film des französischen Regisseurs Luc Besson (u.a. „Das fünte Element“) mit Mila Jovovich in der Titelrolle inspiriert, die Optik des Recken La Hire (Bernd Hölscher) ebenfalls. Doch Eva Maria Sommersbergs bleibt im weiteren Verlauf ihrer kriegerischen Laufbahn konstant mädchenhafter als die Filmjohanna, agiert dafür oft auch als verstörend schrilles Gör, das im Vergleich zum gestört-infantilen Karl VII. trotzdem in jeder Sekunde normal wirkt. Dieser Dauphin, dem es gerade die Partylaune verhagelt hat, wirkt ziemlich grenzdebil und scheint der Opfer nicht wert, die Johanna auf sich genommen hat, um zu ihm zu kommen und ihm den Thron zu verschaffen.
Das Publikum rühren kann Alexander Weise, der wie die Mehrzahl der Darsteller ein englisches alter ego hat, in der Rolle des Walisers Montgomery, den die von ihrer Mission beseelte Johanna so erbarmngslos niedermetzelt, wie es eigentlich der haltlose König verdient gehabt hätte. Die blutigen Schlachtenchoreographien, in deren Verlauf sich Schillers Rhetorik nicht mehr im geringsten mit der Aktion beißt, sind typisch Rueb und gut anzusehen, die größte Hürde für den Regisseur und die Hauptheldin stellt der Zweikampf mit Lionel (Björn Bonn) und die sich daraus ergebenden Konsequenzen dar. Bis zu diesem zweiten zentralen Umschlagpunkt im dritten Akt bietet die Inszenierung einen routinierten Mix aus Rueb und Besson, der sich sogar leichter konsumieren lässt als frühere Arbeiten, allerdings auch ohne die von vielen geschätzte Würze der Provokation auskommt. [Sofern der Zuschauer gewisse Szenen des hierzulande sehr ungnädig aufgenommenen Film kennt, der mehr der Historie verpflichtet ist als Schillers Drama, das den Konflikt von Ideal und Wirklichkeit aus der Begegnung mit Lionel und der Liebe, die zur Schwäche wird, gestaltet.] Erst beim Kernanliegen des Dramas wird Ruebs Inszenierung wirklich großartig. Der Bruch des jungfräulichen Selbstbilds unter dem Verlangen des erotisch aufgeladenen Zweikampfs, der Johanna als ältere Schwester von Kleists Penthesilea erscheinen lässt, erweist sich als tödlich für die Unbedingtheit des göttlichen Auftrags. Die ihres Selbstbewusstseins beraubte Jungfrau von Orléans ist danach antriebslos und angreifbar und sagt kein Wort zu ihrer Verteidigung als sie der Vater bei den Krönungsfeierlichkeiten in Reims der Hexerei bezichtigt.
Das einsam und angreifbar gewordene Mädchen liefert sich denn auch nicht einmal ein Wortgefecht mit der mit Ketten rasselnden Isabeau, die sich den persönlichen Triumph nicht entgehen lässt, den Grund für so viel persönliches Ungemach an die Engländer auszuliefern. Als böse, kriegstreiberische Königsmutter wie als mit Johanna sympathisierende Mätresse Agnes ist Anke Stedingk ebenfalls mit Rollen auf beiden Seiten der Fronten des hundertjährigen Krieges bedacht, schlägt sich in der Hexenrolle aber besser.
Fazit: Klassiker unterliegen auch gewissen Konjunkturschwankungen. Der im 21.Jahrhundert wieder präsente Fanatismus wider jede Vernunft sorgt für neue Aktualität im vermeintlich angestaubten Stück, dessen Botschaft in Gustav Ruebs Inszenierung nachvollziehbar wird und deshalb nahchvollziehbar wird. Die Jungfrau ist deshalb nicht zu Unrecht der Publikumserfolg der aktuellen Spielzeit.