BALLETT DER STAHLTRÄGER
Bettina Damaris Lange
Johanna überquert die große, leere Bühne und verschwindet. Sie kehrt zurück. Diesmal begibt sie sich zur hinteren Bühnenwand, erhebt ihren Arm und kratzt mit den Fingernägeln daran herunter. Sie trägt ein mittel blaues, schlichtes Kleid. Sie setzt sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie hat einen Entschluss gefasst, welchen, wird der Zuschauer erst später erfahren. Doch nun heißt es für Johanna erst einmal Abschied nehmen von der geliebten Heimat, zu der sie niemals zurückkehren wird. Johanna ist fest entschlossen, diese Heimat Frankreich von den Engländern zu befreien. Dies ist nicht ihr eigener Entschluss, sondern sie handelt im Auftrag Gottes, dessen Stimme sie schon lange gehört hat. Zeitgleich befindet sich der König von Frankreich im Begriff zu kapitulieren. In der Inszenierung von Gustav Rueb zeigt Alexander Weise einen zerbrechlichen Dauphin, dem das ganze Kriegstreiben viel zu viel wird. Mit zaghafter Stimme versucht er seinen Standpunkt zu erklären, er wolle doch nur den Frieden für seine Brust, das Herz seiner Freunde und seine geliebte Agnes. Ein gefühlsbetonter Romantiker wird Frankreich nicht aus den Klauen der Engländer reißen, das machen ihm seine Gefolgsleute klar. Doch für die Darstellung des Schillersehen Dramas auf der Kasseler Bühne stellt diese nuanciert gezeichnete Persönlichkeit eine große Bereicherung dar. Wenn auch an der Grenze des Nicht-mehr-Verstehbaren macht Alexander Weise mit seinen zart-verzweifelten Tönen überdeutlich: Dieser König sehnt sich sehr nach Rückzug. Wie praktisch, zumindest für die Stadt Orleans, dass ausgerechnet jetzt Johanna ihren Stimmen folgt und es ihr tatsächlich gelingt, die Feinde in die Flucht zu schlagen. War es zunächst nur eine Wange Johannas, die mit Blut beschmiert war, so regnet das Blut schon bald eimerweise von der Decke. Was folgt, sind Schlachten, Konflikte, Auseinandersetzungen, manchmal sogar auf verbaler Ebene in einem Misch-Slang aus Englisch und Französisch, was zeigt: Die Grenzen zwischen Staatstreuen und Überläufern sind hier nur schwer auszumachen, und wie so oft, wenn zwei Parteien mit großer Entschlossenheit ihr jeweiliges Ziel verfolgen, ist der weitere Verlauf kein glücklicher. Bei Eva Maria Sommersberg als Johanna sieht das Publikum neben den entschlossenen bald auch schon zweifelnde Züge, doch an ihrem Plan ändert das nichts. Die Stärke der Inszenierung liegt in dem Bühnenbild von Florian Etti. Es gibt hier keine Schnörkel, die Bühne ist groß und leer, einzig begrenzt von einer frontalen anthrazitfarbenen Hinterwand. Alles Weitere ergibt sich aus den Bewegungen der verschiedenen Bühnenelemente. Mal fährt der mittlere Bühnenboden hoch, dann sinkt er wieder ab. Und über allem schweben drohend schwer aussehende Stahlträgerbalken. Die neun Metallkörper in gleichmäßiger Anordnung scheinen ihren eigenen Tanz aufzuführen. Mal reagieren sie auf die emporkommende Mittelbühne, mal folgen sie ihren eigenen Gesetzen, richten sich auf und sinken nieder. Ihre Bewegungen hinterlassen große Schatten auf der Bühne, und das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente lässt viel Raum für Interpretationen. Mal meint man, ein Heer mit Speerspitzen zu erkennen, dann wieder scheinen die Spieler durch hügelige Landschaften zu schreiten. Die Bewegungsmuster verleihen der Bühne Weite und Plastizität. Sie sind es, die den Zuschauer immer wieder in den Bann der Bühne holen. Die maschinenartige Gleichförmigkeit der Bühnenelemente unterstützt Johannas Entschlossenheit. Gustav Rueb setzt auch in seiner neuesten Inszenierung am Kasseler Staatstheater einige der von ihm bekannten Stilmittel ein, so ein bedrohlich klingendes Grollen, das den schicksalhaften Verlauf des Stücks zu kommentieren scheint, und französische Chansons, die die eine oder andere Szene untermalen. Was ein Liebhaber Ruebscher Inszenierungen dieses Mal vermisst haben könnte, sind Akzente und Höhepunkte. Was auf der einen Seite der Inszenierung ihren Charakter verleiht, nämlich der gleichmäßige Rhythmus der Bühnenelemente, hätte auf der anderen Seite gerne auch öfter unterbrochen werden dürfen. Dieses Muster findet sich auch in dem Spiel der Hauptdarstellerin wieder. Sie zeigt eine starke Bühnenpräsenz und füllt die Rolle charakterlich gut aus. Als Johanna wirkt Eva Maria Sommersberg authentisch. Dennoch wäre auch hier eine Entwicklung schön gewesen. Ihre Entschlossenheit ist fast genauso gleichbleibend wie ihre angedeutete Verzweiflung, die jedoch erstere kaum zu trüben vermag. Was am Ende in Erinnerung bleiben wird, ist die Bühnenlandschaft und der unendliche lnterpretationsspielraum, den sie eröffnet. Irgendwie erinnern die Stahlträger auch an das eingestürzte World Trade Center. Und wenn auch nur sehr zaghaft, so scheint gelegentlich auch Asche vom Himmel zu regnen.