Nachtkritik

Die Jungfrau von Orleans – Gustav Rueb inszeniert Schiller in Kassel 

Visionen von Johanna 

von Andreas Wicke 

Kassel, 30. November 2013. "Ich möcht als Reiter fliegen / Wohl in die blutge Schlacht", heißt es in Joseph von Eichendorffs "In einem kühlen Grunde", und mit diesem Gedicht, in wackerem Männerchorsound vom Ensemble gesungen, endet Gustav Ruebs Kasseler Inszenierung der "Jungfrau von Orleans". Blutüberströmt steht Johanna an der Rampe, im Hintergrund wird der Showdown begleitet von all jenen Visionen, die im Laufe des Abends auf Rückwand und Bühnenboden projiziert worden waren. 

Diesmal sind sie durchsetzt von kurz aufzuckenden Herrschergestalten – von Napoleon über Hitler bis zu modernen Gotteskriegern. Es ist ein Spiel um Macht und Wahn, um Politik und Kampf. Doch stehen nationale Differenzen in dieser Produktion nicht im Vordergrund, jeder Darsteller spielt immer auch den Feind: Graf Dunois ist auch Lionel, du Chatel ist auch Talbot. Und wer Engländer ist, spricht oder singt natürlich auch mal Englisch: "We want to fuck Joanna" auf die Melodie von Eddy Grants Gimme Hope, Joʼanna. 

Starkes Mädchen, schwacher König 

Ein zentraler Kontrast ist hingegen jener zwischen dem degeneriert-debilen Herrscher und dem Naturgeschöpf, zwischen König Karl VII. und dem Hirtenmädchen Johanna. Alexander Weise tritt als König Karl im Brokat-Glitzer-Sakko auf, immer am Rande des Wahnsinns. Zwischen naiver Sinnlichkeit und infantiler Hilflosigkeit radikalisiert er die Unsicherheit und Schwachheit seiner Figur. Politisch wird dieser Herrscher kaum Erfolg haben, schauspielerisch hingegen überzeugt er absolut. 

Im Gegensatz dazu legt Eva Maria Sommersberg die Titelfigur standhaft und ruhig an. Schnell ist klar, dass diese Frau anders ist als andere. Ihr geradliniger Blick, ihre schlichte Kleidung, ihre wissende Mimik, ihre reduzierten Bewegungen machen deutlich, dass ihr Kampfeswille nicht auf politischer Ranküne, sondern auf göttlicher Berufung basiert. Anmut und Würde treffen nicht nur im Sinne der Konzeption Schillers auf diese Ausnahmeerscheinung zu, dennoch kann man die Figur nicht fassen, nicht begreifen. Eva Maria Sommersberg gelingt es, die Kämpferin Johanna als Imponderabilie, als tickende Bombe anzulegen, eine Frau, die sich jeder Einschätzung entzieht. Gleichwohl ist ihr Spiel überzeugender als die Sprache; zwar differenziert sie in den leisen Tönen, die Eruptionen im fortissimo hingegen bleiben bisweilen deklamatorisches Pathos, nicht jeder Blankvers wird lebendig.

Reduktion und Stilisierung 

Neben dem Kontrast zwischen den beiden zentralen Figuren bestimmt ein weiterer Gegensatz die Inszenierung: Während das abstrakte, aber hochstilisierte Bühnenbild von Florian Etti die Handlung in ein unterkühlt-nüchtern-metallenes Überall stellt, das nur von riesigen Metallwinkeln überdacht oder vielmehr bedroht wird, laufen die religiösen Visionen Johannas als religiöses Kitsch-Video im Hintergrund. Die "romantische Tragödie", deren übersinnliche Elemente durchaus auch Schillers Zeitgenossen verwundert haben, wird hier mit den Mitteln der Doku-Soap-Einspieler trivialisiert: Weichzeichner, Wolkenhimmel, Bluttränen, Pferde, Close-Up und übersteuerte Klavierklänge. Die Kontraste, die sich durch die Produktion ziehen, werden durch ein ästhetisches Spiel mit Licht und Schatten verstärkt. Kriegerische Positionen, Schlachtenlärm und Säbelgerassel treten in den Hintergrund. Rueb entschleunigt, entwirklicht und reduziert auf das Nötigste: ein Helm, Ketten, eine Schlacht in Slow Motion. Statt äußerer Handlung geht es um ... 

... Und genau das ist die Frage. Worum geht es in dieser Inszenierung, die trotz vieler eindrucksvoller Momente, unerwarteter Bilder und plötzlicher Blutduschen, trotz verfremdender Komik und genauer Figurenführung nicht endgültig in ihren Bann zieht? 

So wie die ballettösen Auf- und Abbewegungen der Metallträger und des Bühnenbodens bisweilen unmotiviert wirken, so erschließt sich auch das Regiekonzept nicht vollends. Während Gustav Rueb sonst ein Meister der Vielschichtigkeit, der sinnlichen Bilder und der intellektuellen Durchdringung ist, bleibt seine "Jungfrau von Orleans" hinter Produktionen wie "Medea" (2011) oder "Dantons Tod" (2013) zurück. "Wir wollten eine Maschine entwerfen", sagt der Regisseur in einem Interview, "in die alle Figuren geworfen werden. Die Größe und Opernhaftigkeit des Stoffes verlangt nach einem klaren Bild." Es sind eindrückliche Bilder, die diese Produktion zeigt, aber die Relevanz des Stückes deutet sich nur an.