"Der Freischuss": Eine Liebesstory in den Schluchten Neuköllns
Von Volker Blech
Auf der Neuköllner Bühne wird deutlich mehr herumgeballert. Mit der Nationaloper "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber, die 1821 am Gendarmenmarkt uraufgeführt wurde, hat diese Neuproduktion von 2011 reichlich wenig zu tun. Aber eigentlich ist von der Neuköllner Oper, die gern altvertraute Stoffe - lachend und schreiend - in die heutige Realität übersetzt, nichts anderes zu erwarten.
Und dennoch überrascht die Premiere von "Der Freischuss" mit einer bemerkenswerten Gefühlsnähe: In den zwei Stunden schafft es das kleine Team in Neukölln tatsächlich, frühromantische Weltflucht-Stimmungen ins Heute zu übersetzen. Das ist schon beeindruckend.
Dem Berliner Komponisten Jan Müller-Wieland ist das vor allem zu verdanken. Er hat Webers Original zunächst einmal in einen kleinteiligen Trümmerhaufen zerlegt, aus dem er sich souverän mit diesen und jenen Arien, Chorsplittern oder auch nur Motiven bedient. Dazu gekommen ist ein zarter Hauch von Jazzfeeling in der Großstadt. Gefühlt sind gut ein Drittel der Musik des Abends von Weber, knapp ein Drittel von ihm inspirierte Sequenzen, ein Drittel von Müller-Wieland. Letzterer ist für die Traumszenen, die Reflexionen und Übergänge zuständig, denn natürlich hat Theaterautorin Luise Rist eine völlig neue Handlung gebaut. Es ist eine abendfüllende "Wolfsschluchtszene" in den Schluchten der Großstadt geworden, dort, wo heute Träume und Wirklichkeit aufeinander prallen.
Max, ein junger Neuköllner mit brutalem Vater, trifft Linn, die verwöhnte Mitte-Göre, an der U-Bahnstation. Es entsteht so etwas wie Liebe und Hoffnung. Aber Max, der staatstreue Streifenpolizist, ist besessen davon, ein SEK-Beamter zu werden. Er ist ein Träumer, ein Traumatisierter, ein Weltverbesserer, ein Einsamer. Die soziale Aufstiegsgeschichte droht zu scheitern, als sich herausstellt, dass Linns Vater ein gefährlicher Waffenhändler ist. Friedhelm Ptok spielt den jovialen Vater alias Samiel mit ungeheurer Präsenz. Stimmlich können sich vor allem Ulrike Schwab als Linn und dazu komödiantisch Thorsten Loeb als Schwellkörper-gesteuerter Kilian durchsetzen. Eine weitere Hauptrolle spielt die Pistole, mit der ausdauernd herumgefuchtelt wird. Leider fehlt Ilja Martin Schwärsky die nötige tenorale Strahlkraft, um die Zerrissenheit von Max glaubhaft auszuleben.
Regisseur Gustav Rueb hat die urbane "Freischütz"-Liebesstory detailbewusst und akkurat - teilweise auf verschiedenen Handlungsebenen - umgesetzt. Dafür hat ihm Bühnenbildnerin Emily Laumanns einen übergroßen, zweiflügligen, verschiedene Szenenbilder aufblätternden Schrank in den Hintergrund gestellt. Davor wechseln Tische, Stühle und Badewanne. So entstehen kleine Welten, heil sind sie nie. Im fünfköpfigen Orchesterchen, um Klavier und Schlagwerk herum, hätte man sich eher das Horn statt der Trompete gewünscht. Aber das wäre wohl zu viel Romantik geworden.