Stuttgarter Nachrichten

Verse als Fremdkörper 

Null und eins, Bits und Bites. Die Bühne eine Festplatte, die Welt ein einziger binärer Code. Regisseur Gustav Rueb beamt mit Hilfe des Ausstatters Tilo Steffens "Faust II" von Johann W. Goethe, mit dem das Landestheater Tübingen letzten Freitag seine Saison eröffnet hat, in ein Medienzeitalter des Virtualitäts- und Zeitrausches. 

VON VERA TEICHMANN 

Faust wird zu einem Global Player des Fortschritts im glänzenden braunen Anzug und strähniger Langhaarperücke, die Vereinigung mit Helena zum "Projekt Kleinfamilie" und ihr gemeinsamer Sohn Euphorion zum blind eifernden Karrieristen. 

Goethe sah dies einst als Synthese von der romantischen Erlebniskraft des Nordens (Faust) und dem Formsinn der griechischen Klassik (Helena), die im gemeinsamen Sohn Euphorion gipfelt, dem Genius der Poesie. Letztlich eine Vereinigung von gegensätzlichen Lebens- und Kunsttendenzen. Die Gegensätze von Gunnar Kolb als Faust und Ina Fritsche als Helena sind da nicht mehr so klar. Vieles in der Inszenierung bei Rueb wirkt zwar bemüht, bleibt aber verschwommen. 

Vor allem die Figur Faust selbst. Gunnar Kolb sondert schon die Verse oft wie seltsame Sprachfremdkörper von sich ab, so dass bei einem seiner folgenden kritischen Blicke mit hochgezogener Augenbraue der Eindruck entsteht, er könne es selbst gar nicht (er)fassen, was er da eben von sich gegeben hat. Dieser Faust ist von Anfang an seltsam distanziert und agiert eher wie eine Randfigur. Natürlich ist Mephisto die treibende Kraft, das Böse, das verführen will, und strotzt hier nicht nur vor Aktionismus und zieht fleißig die oft auf dem Boden herumliegenden Personen hin und her und weg. Doch ist es Faust, der sagt: "Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, / Ins Rollen der Begebenheit!" Auch hier will er noch immer höher hinaus. Doch der Tübinger Faust will irgendwie so gar nichts. 

Gretchen hingegen will Faust erlösen und tut es am Schluss auch. Die Sopranistin Edit Faludi, die den gesamten Abend bereits als Lichtgestalt mit ihrem klaren Gesang über die Bühne geschwebt ist, kniet bei Faust und zieht ihn fast zärtlich und engelsgleich als das "Ewigweibliche" hinan. Das Licht am Ende des Regietunnels.