Im Rausch der Medien
LTT startet mit Goethes "Faust II" in die neue Spielzeit
Faust als Global Player in einer beschleunigten Medienweit: Gustav Ruebs Inszenierung von "Faust II" bot ein schroffes Nebeneinander von Zeichen, Stilen und Medien, was beim Publikum nur zum Teil ankam.
Am Anfang ist die Spannung groß. Was wird Regisseur Gustav Rueb wohl aus dem zweiten Teil dieses komplizierten Mammutwerks machen? Aus einem Werk, mit dem Johann Wolfgang von Goethe ein Dichterleben lang gekämpft hat? Mehr als ein "gut gewollt" kann doch da nicht herauskommen.
Anfangs scheinen sich diese Bedenken auch zu bestätigen. Putzwedelnder Aktionismus bestimmt die Szenerie, bevor Faust (Gunnar Kolb) mit schwarzem Käppi, Anzug und wallendem Silberhaar sowie der barfüßige Mephisto laut lamentierend die Bühne betreten. Der kahlköpfige Teufel verspricht dem Zaudernden, "was noch kein Mensch gesehen", und schon beginnt eine rasante Odyssee durch Zeit und Raum, eine mediale Reise durch multiple Welten. Das Bühnenbild (Tilo Steffens) gleicht einer Art moderner Medienhöhle. Im Hintergrund stehen Leinwände in Form riesiger Computer-Festplatten, mit einer Live-Cam werden Szenen auf mehrere TV-Geräte (Video: Pia Greschner) projiziert.
Flugs verschlägt es die beiden Genusssüchtigen an einen mittelalterlichen Kaiserhof. Erotisch-dampfende Walpurgisnacht-Stimmung und haltlose Gier machen sich breit. Dekadenz dominiert. Während der Gott des Reichtums mit dem eben erfundenen Papiergeld um sich wirft, verwandelt sich das lechzende Fußvolk in blökende Schafe.
Das ist genau nach dem Geschmack von Mephisto (Udo Rau). Mal spielt er sich als phallusschwingender Sexprotz auf, mal als jovialer Kumpel, dann wieder zeigt er unverblümt die Fratze des Bösen. Dagegen muss Faust-Darsteller Kolb fast schon' blass erscheinen. Trotzdem feiert er - noch ganz Global-Player - kräftig mit.
Nächste Station: die antike Welt der Mythen. Auch hier hat der Fortschritt bereits Einzug gehalten. Eine anzügliche Verführungsszene läuft auf einer Videoleinwand. Eine Provokation für den Gelehrten. Mit wütenden Flüchen zerstört er das Medium. Eine Slapstickszene folgt auf die andere. Schließlich liegt Faust erschöpft auf einem Podest, während der gerade erschaffene Homunculus (Katja Gaudard) Turnübungen vollführt und sich von seiner rot blinkenden Nabelschnur zu befreien sucht. Im Hintergrund vergnügen sich zwei Emanzen beim Liebesspiel. All das spielt sich in einer atemlos torkelnden Bilderabfolge ab. Ständig wuseln Ensemblemitglieder über die Bühne, mal frontal, mal zueinander sprechend.
Verzwacktes Spiel mit ständigen Verwandlungen
Der Übergang von einer Zeitebene in die nächste wird stets vom toten Gretchen (Edit Faludi) eingeleitet, die als Erinnerungshauch der Transzendenz Arien singend über die Bühne geistert. Ein schöner Regieeinfall ist das, auch, weil es die verwirrenden Szenenabfolgen voneinander abgrenzt.
Die acht Darsteller neben Faust und Gretchen, die hier mit kolossalern Geschick und viel Lust am Spiel ein Riesenensemble vortäuschen, verwandeln sich ständig in andere Charaktere. Auch Artistik wird groß geschrieben in dieser Aufführung! Ganz gleich, ob sich Kreaturen winden, ob die Trinkorgie am Kaiserhof zum Abstecher in die Määnzer Fassenacht ausartet oder ob Helenas (Ina Fritsche) Beziehungschaos zum Event gerät.
Fortwährende Action und Tempo sind angesagt. Faust drängt mit Mephisto an seiner Seite immer vorwärts, bis er am Ende an sich selbst verzweifelt - und sich zu Tode amüsiert. Gunnar Kolb bietet Theater pur. Es ist ein verzwacktes Spiel der ständigen Verwandlungen, Verkleidungen und Verstellungen. Ein rasanter Parforceritt durch die verschiedenen Zeitepochen, Geschlechter und Typen.
Die Inszenierung experimentiert zugleich mit der Phantasie, lotet ihre Möglichkeiten aus. Vor allem Mephisto (Udo Rau) und die mehrere Rollen spielenden Martin Schultz-Coulon (Euphorion) und Katja Gaudard ziehen alle Register ihrer Schauspielkunst. Sie charmieren oder sind hysterisch, sind lieblich oder tumb und bewahren dabei immer eine Spur Fanatismus.
Auch wenn der große Theaterabend am Ende nicht gelingt, beeindruckt die Tübinger Inszenierung durch ihre unbändige Lust am Spiel und die souveräne Beherrschung aller Facetten, die das Theater zu bieten hat.