Das Wesentliche von Faust herausgeschält
Von Fridolin Jakober
Glarus. - Das Landestheater Tübingen spielte am Freitag in der Kanti-
Aula einen spannenden Faust II, der gut besucht war und erstaunlich gut
aufgenommen wurde.
«Du gehst in die dritte oder vierte Vorstellung und siehst, was das für ein
Schrott ist.» Das sagte Regisseur Peter Stein fünf Jahre später über seine
eigene gigantische Aufführung dieses übergrossen Dramas auf der Expo
2000 in Hannover - 15 Stunden Spielzeit, 18 Schauplätze und 33 Schauspieler.
Faust II ist der Schrott einer genial angedachten Goethe´schen Fantasiemaschine,
die den immer weiter getriebenen Faust auf Bergeshöhen und
weit darüber hinaus bis in den Himmel trägt. Und so ist es heute - im Zeitalter
der Stahlknappheit - nur natürlich, dass gute Regisseure und Dramaturgen
diesen «Schrott» verwerten.
Der Teufel als einziger Freund
Das mag eingefleischte Rudolf-Steinerianer und die bürgerliche Grossschriftstellerkultur
des 19. Jahrhunderts etwas enttäuschen. Für alle anderen
- und zu ihnen gehört die Truppe des Landestheaters offenbar - beginnt
hier der Spass. Ein Text - noch dazu von Goethe -,
der sich mit unseren modernen Problemen, mit Geldmarkt, mit Gentechnik,
mit den neuen Medien auseinandersetzt. Ein Drama, das den Teufel
nicht mehr an dieWand malt, sondern ihn, wie eine Hydra, vervielfältigt.
Eine Aufführung, wo ein blinder und besoffener Faust mit den Worten
«Verweile doch» sein Leben als Macher aushaucht. Ein Wirtschaftstycoon,
der hier stirbt, ein gescheiterter Ingenieur, ein geprellter Casanova.
All das und mehr war Gunnar Kolb, der über drei Stunden mit einer heissen
Kartoffel im Mund sprach. Dieser wahrhaft Grosse, der von seiner Umwelt
dekomponiert wird. Der ins Koma fällt und vom Homunculus - einer
meisterhaften Katja Gaudard - wiederbelebt wird. Der an der 1-Kind-Familie
mit der Schönen Helena geradezu gigantisch scheitert. Der nur den
Teufel - Udo Rau, Martin Schultz-Coullon, Katja Gaudard und Karlheinz
Schmitt - als Freund behält und zuletzt mit Sorge (Katja Gaudard),
Mangel (Hildegard Maier), Schuld (Edit Faludi) und Not (Ina Fritsche)
einen Totentanz aufführt.
Das war ergreifend
Tatsächlich war das Geniale an der Inszenierung des jungen Gustav Rueb,
dass er das Wesentliche von Faust II herausschält und so den alternden
Geheimrat vor seiner eigenen, zwar schönen, aber dramaturgisch leider
längst verblichenen Knittelsprache in Schutz nimmt. In den drei Stunden
konnten die Besuchenden den gedanklichen Bogen nachvollziehen,
den das Genie Goethe über sein Opus magnum gespannt hat. Und er hörte
einige Arien - vor allem von Bach. Gretchen (Edit Faludi a cappella als
Sopran) sang der toten Faustschen Seele «Schlummert ein, ihr matten
Augen, Fallet sanft und selig zu!Welt, ich bleibe nicht mehr hier, Hab´ ich
doch kein Teil an dir, Das der Seele könnte taugen.» Nicht als einem weisen
und tiefgläubigen Simeon, sondern als einem, der bis zur letzten Sekunde
gekämpft hat und gescheitert ist.
Das war ergreifend.