Rems-Zeitung

Ein großer Projektemacher wrackt ab 

Ein reduzierter, aber bildmächtiger "Faust II" 

Wer versucht, dieses Textgebirge zu bewältigen, muss damit rechnen, dass er nicht weit kommt oder gleich abstürzt. Die Warnschilder hat die Goethe-Philologie schon im 19. Jahrhundert, bald nach dem Tod des Dichters eingepflockt. 

Goethes "Faust II" galt lange als kaum spielbares, überlanges und verrätseltes Spätwerk. Friedrich Theodor Vischer, der Tübinger Ästhetiker, schickte einen parodistischen "Faust III" hinterher, verfasst von einem "Deutobold Allegoriowitsch Symbolzetti Mystifizimsky". Das Pseudonym fasst schon die meisten Vorwürfe ans Stück zusammen - vor allem gebe es darin keine lebensvollen Gestalten, sondern nur Begriffe, um die ein paar allegorische Lappen geschlagen seien, blutleere Begriffsdichtung. 

Doch es gibt Abkürzungen, und auf eine davon begibt sich das Landestheater Tübingen mit Gustav Ruebs Inszenierung, die am Donnerstag im Stadtgarten aufgeführt wurde. Sie verkennt die allegorische Grundstruktur nicht, sondern versucht, ihr mit einer eigenen Bildmächtigkeit Herr zu werden. So und mit gewaltigen Kürzungen gelangt sie einigermaßen zu Stringenz. Von einer fortlaufenden Handlung des Stücks zu sprechen, ist nicht möglich; es handelt sich um szenische Episoden, die, je länger desto mehr sich in ihrem Horizont weiten. Doch klar ist, dass Rueb sich an ein Faust-Verständnis hält, das von der Ökonomie ausgeht - nicht neu, sondern seit Claus Peymanns legendärer Stuttgarter "Faust II"-Inszenierung vor gut dreißig Jahren eingeführt. 

Ruebs "Faust II" spielt eine Zivilisationstragödie vor, den Weg einer Gesellschaft und eines Wirtschaftens, die in rotierender Bewegung die Welt verzehren und sich im rasenden Bildwechsel erschöpfen: In der Bewegung der Moderne darf es kein Verweilen geben, sonst droht der finale Systemabsturz. 

Dabei beginnt die Aufführung eher gemächlich in einem Bühnenbild aus Monitoren und übergroßen Platinen, Faust hängt im Sessel, noch ermattet von seiner Flucht; Putzfrauen stecken die Reste von der Tragödie erstem Teil in Säcke, ein totes Gretchen liegt auf dem Boden. Sie kehrt im Verlauf der fünf Akte wieder als fragile, betörend singende Erinnerung, sie verdeutlicht den Preis, den Faust zahlt. 

Wem kämen im ersten Akt bei der Erfindung des Papiergeldes nicht die Usancen der Finanzbranche in den Sinn? Damit's jeder versteht, drückt man dem Kaiser noch den Band "Börse für Dummies" in die Hand, nachdem er sich als großer Pan verausgabt hat. Die Reise in die "große Welt" geht weiter, Faust ist ein Projektemacher, der sich zunehmend verzettelt. Der Homunculus, eine Mischung aus Nachtmahr, Astronaut und Alien, holt ihn aus dem Koma, in das er in der klassischen Walpurgisnacht fällt; mit Helena, der schönsten Frau des Altertums, läuft es gründlich schief, Antike und Moderne passen eben nicht zusammen, Sohn Euphorion sitzt als Riesenbaby im Einkaufswagen. Weniger revuehaft die beiden letzten Akte: Fausts Landgewinnungsprojekt endet mit der Ermordung der braven Alten Philemon und Baucis, er versackt vollends im Sessel, ein Titan und Tycoon am Ende seiner Kraft, den Sorge, Mangel, Not und Schuld heimsuchen. Gunnar Kolb spielt Faust mit frappierendem Furor - er muss es mit vier Mephistos aufnehmen, von denen der glatte Udo Rau und die abgründige Katja Gaudard am eindringlichsten wirken. Kein Chorus mysticus am Schluss, nur Gebrabbel. Und der wundersame, so ergreifende Sopran der Gretchen-Gestalt (Edit Faludi) über Fausts Leiche, eine Bach-Kantate: "Schlummert ein, ihr matten Augen." - Die dreihundert Zuschauer applaudierten lang.