Schlummert ein, ihr matten Augen
Gretchens greatest Bach-Hits
Im LTT brummelt, nölt und nuschelt sich die Hauptperson Faust missmutig durch ein Stück, das für ihn bekanntlich schlimm ausgeht. Kummerspeck hat er angesetzt, wirkt etwas magenleidend: Den Schock der geplatzten Gefangenenbefreiung am Schluss von "Faust I" verdaut er nun erst einmal dösend in einer Kernkraftwerk-Leitzentrale, die dem Inneren einer Festplatte ähnelt (Bühne: Tilo Steffens) und in der noch ausgiebig geschrubbt wird. Reinigungskräfte feudeln dabei wacker ums hingestreckte Gretchen und um andere Gestrandete herum.
In der Rückblende ("Die Wette biet ich!" "Topp!") zeigt sich Faust gegenüber Mephisto, dem wackeren Gegenpart, eher unwirsch. Längst ahnt er, dass der teuflische Begleiter nun zum Spießgesellen geworden ist; durch dick und dünn und doof, auf Gedeih und (vor allem) Verderb.
Zwei faustdicke Überraschungen hält Ruebs Inszenierung, die sich ansonsten vom Satyrspiel mühsam zur bitter eingetrübten Farce emporstemmt, immerhin doch bereit. Zum einen kriegen es Faust und die anderen mit der Übermacht von gleich vier Mephistos zu tun, die ihr Unwesen erst wechselbalgend und danach als terrorisierende Viererbande (im blütenreinen Clockwork-Orange-Outfit) treiben. Zum anderen geistert eine bezopfte Wiedergängerin durch die Szenerie: Gretchen ist tot und lässt schön grüßen.
Wie von Zeitnehmer Christoph Marthaler erfunden, stimmt Gretchen gelegentlich Zitate aus zwei Bach-Kantaten an (wen's interessiert: Nummer 82 und 199): Die Sängerin Edit Faludi hat mit Rueb neulich auf den Zürcher Bachtagen das opernähnlichste aller Werke des Thomaskantors aufgeführt, und auch hier macht sie ihre Sache gut. Und behält, anstelle des chorus mysticus, als Ewig-Weibliches am Schluss das letzte Wort.
Bis dahin aber ist es ein weiter, dreistündiger Weg. Mephisto Numero Eins entfacht in Udo Raus smarter, glatter, verbindlicher Art einen Finanzcrash am Kaiserhof, wo nebenbei das Geldpapier erfunden wird: New Economy, die der Weimarer Geheimrat prophetisch vorhersieht und gleichfalls wie eine Blase platzen lässt. Hier hätte die Vision einer aufgepumpten, auf Pump lebenden Finanzwirtschaft besser wiedergegeben werden können.
"Fiat money - es werde Geld!"
Ein paar stärkere Bildzitate, immerhin: Etwa wenn die Schauspielerin Katja Gaudard als Homunculus wie der berühmte Füssli-"Nachtmahr", wie ein Astronaut und Alien, auf Fausts Körper kauert. Katja Gaudard ist dazu die unheimlichste Mephisto-Abspaltung unter den vier Glacéhandschuh-Gladiatoren.