Das Leben ist ein Wartehäuschen
Gustav Rueb inszeniert am Staatstheater Euripides' "Alkestis" als Studie über Liebe und Sterben
Von Bettina Fraschke
KASSEL. Sei fröhlich. Nutze den Tag. Wer weiß, was morgen kommt. Nicht ein strahlender Kriegsheld, sondern ein struppiger Penner, der ein paar Bier zu viel intus hat, belehrt uns mit derartigen Weisheiten. Der Halbgott Herakles (Jochen Drechsler) trägt Parka, Schlappen und eine verfilzte Matte auf dem Kopf, als habe er in der Gosse geschlafen. Dass so einer so reden muss, ist klar: Schließlich könnte er sich schon morgen totgesoffen haben. Gerade deshalb packt uns der abgenutzte Spruch auf einmal ganz direkt.
Gustav Rueb inszeniert Euripides' "Alkestis" für das Staatstheater Kassel auf der Bühne des tif in 90 Minuten mit großer analytischer Kraft und überraschenden Bildern. Wüst und leer ist hier das Leben, entweder vom waagerecht einfallenden Licht grell erhellt oder in Dunkelheit getaucht. Schwarze Pfützen und schäbige Monoblockstühle zwischen nackten Birkenstämmen. Ein Wartehäuschen aus Waschbetonplatten. Die verschmutzten Scheiben sind nicht mehr vollständig (Ausstattung: Daniel Roskamp).
Das Leben der Menschen spielt sich auf der Wartebank ab. Dort ruhen die Eheleute Alkestis und Admetos mit ihren Kindern, wenn sie genug gespielt haben, dort kauert das Paar, das sich zärtlich geneckt hat. Doch die Wärme von Liebe und Miteinander kühlt schnell ab. Bald wird das Dasein grau und trostlos: Hinter der Scheibe stirbt Alkestis. Zusammengesunken in der Ecke. Sichtbar, und doch unerreichbar.
Alkestis (Agnes Mann) hat ihr Leben bis zuletzt trotzig und wie in großen Schlucken geschlürft. Liebend opfert sie sich freiwillig für ihren Mann Admetos (Axel Holst), der sich dem eigenen Sterben nicht gewachsen fühlt. Doch Leben gelingt ihm nun auch nicht mehr. "Könnte ich doch sterben", klagt er nach ihrem Tod. Als wäre sein Verstand blitzartig von dem grellen Bühnenlicht erhellt worden, versteht er, dass es Wärme für ihn nicht mehr geben wird. So sickert aus Axel Holsts Admetos alle Kraft heraus. Er sinkt zusammen, scheint von Innen heraus grau zu werden.
Die Götter durchmessen den Raum, wandeln zwischen den Birken. Ausrichten können sie nicht viel. Auf das Schicksal der Menschen nehmen sie keinen Einfluss mehr, ihre Leuchtkraft beschränkt sich auf ein paar Teelichter. Nur Jochen Drechslers Herakles hat sich im wüsten Exzess eine Nische der Freiheit bewahrt. Als er die Trauer des Admetos nicht mehr ertragen kann und Alkestis aus der Totenwelt zurückholt, dunkelt das kalte Licht herunter. Wie Gespenster sitzen die früheren Eheleute schließlich da. Noch nicht dort, nicht mehr hier. Von diesem Wartehäuschen können sie nie mehr abgeholt werden. Langer Applaus, Füßetrampeln.