Ringen der Überlebenden mit Tod und Trauer
Von der Antike an die Bushaltestelle: Am Kasseler Staatstheater zeigt der junge Regisseur Gustav Rueb die Euripides-Tragödie "Alkestis" als sehr heutige Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer.
Von Joachim F. Tornau
Schon im Spaß liegt der Tod. König Admetos spielt mit seiner Familie die "Reise nach Jerusalem". Erst scheidet seine Frau Alkestis, dann er selbst, dann seine Tochter aus. Lachend und außer Atem. Nur der Sohn überlebt.
Noch ist auf der Studiobühne des Kasseler Staatstheaters im Fridericianum kein Wort gesprochen, noch hat die Euripides-Tragödie um Königin Alkestis, die sich für ihren Mann opfern und sterben wird, nicht ihren Lauf genommen. Doch bereits der scheinbar harmlose Wettlauf um weiße Stapelstühle zeigt, wohin die Reise geht: ins Jenseits. Oder weltlicher ausgedrückt: zum Verlust eines Menschen - und damit zum Ringen der Überlebenden mit Tod und Trauer.
Regisseur Gustav Rueb, Jahrgang 1975, malt ein düsteres Bild: Der Königshof ist eine Bushaltestelle aus nacktem Beton, mit braunen Schalensitzen, Neonbeleuchtung und einem Münzfernsprecher, der irgendwann klingelt, ohne dass jemand den Hörer abnimmt. Ringsum stehen kahle Birken, das Licht kommt kalt und scharf von der Seite. In diesem Wartehäuschen wartet man nicht mehr auf den Bus, das ist die Endstation (Bühne: Daniel Roskamp).
Rueb lässt sehr wohl Euripides spielen, aber kein antikes Trauerspiel. Auf rund anderthalb Stunden hat er den Text verdichtet und ihn schmerzhaft nah in die Gegenwart geholt. Die griechischen Götter haben bei ihm nichts Göttliches mehr. Wie verkrachte Existenzen streichen sie um die königliche Bushaltestelle herum, werden von der sterbenden Alkestis (als verzweifelte Furie: Agnes Mann) sogar verscheucht wie herumstromernde Hunde. Apollon ist ein dandyhafter Zyniker (Peter Elter), und der heldische Herakles, der die Königin schließlich dem Tod doch noch entreißen wird, wurde wohl selten so unheldisch gezeigt: Jochen Drechsler trägt Badeschlappen, Bart und Bierkiste. Ein Halbgott mit Zottelmähne und ohne festen Wohnsitz.
Im Mittelpunkt aber steht Axel Holst, der in der Rolle des Admetos wieder einmal seine herausragende Klasse im Ensemble des Kasseler Staatstheaters beweist. Eigentlich ist der König nur ein unscheinbarer Anzugträger. Doch wie er mit dem Verlust seiner Gattin kämpft, wie ihn der Schmerz verwandelt, ist mehr als schauspielerisch sehenswert. Admetos will das Sterben nicht akzeptieren. Er sucht nach Verantwortlichen, denen er die Schuld geben kann. Und seine Umwelt wirft ihm vor, gegen die gesellschaftlichen Konventionen des Trauerns zu verstoßen.
In der Figur des Admetos kristallisiert sich, um was es Gustav Rueb bei der Inszenierung geht: Seine Kasseler "Alkestis" ist eine hellwache Studie über unsere Unfähigkeit, mit dem Tod umzugehen. Nicht nur vor 2500 Jahren, als Euripides seine Tragödie verfasste, sondern auch heute.