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Vor dem Sterben kommt alles anders

Nach einem cineastischen Frankenstein und einem etwas überfordernden Parsifal bringt der Zürcher Regisseur Gustav Rueb sein drittes Stück am Schauspiel Essen auf die Bühne: Ein großer Aufbruch nach dem gleichnamigen Fernsehfilm von Magnus Vattrodt. Dieser Theaterabend gerät zu einer emotionalen Auseinandersetzung mit den Themen Sterben und Sterbehilfe – aber vor allem zu einem klischeefreien Plädoyer für geklärte zwischenmenschliche Verhältnisse.

von HELGE KREISKÖTHER

Der Autor Magnus Vattrodt, Jahrgang 1972, dürfte den meisten Fernsehzuschauern, wenn auch unbewusst, längst bekannt sein, verfasste er doch die Drehbücher zur ZDF-Krimiserie Helen Dorn, zu Der Novembermann (mit Götz George, 2007) sowie zu so manchem ARD-Tatort. Bereits beehrt mit dem Grimme-Preis, dem Deutschen Fernsehpreis und der Goldenen Kamera, wechselt Vattrodt mitunter aber auch die medialen Genres. So arbeitete er den Novembermann eigenhändig zum Hörspiel, die Vorlage zum ZDF-Film Ein großer Aufbruch – mit Matthias Habich, Hannelore Elsner, Edgar Selge u. a. in den Hauptrollen erstmals ausgestrahlt am 16. November 2015 – hingegen zu einer Theaterfassung um. Letztere feierte schließlich 2017 am Theater Regensburg ihre Premiere und erlebt nun eine Neuinszenierung am Schauspiel Essen.

Unbestreitbarer Protagonist und somit Initiator jenes titelgebenden „großen Aufbruchs“ ist Holm. Holm, der unheilbar krank ist und daher beschlossen hat, selbstbestimmt zu sterben. Holm, der einen minutiös geplanten Abschiedsabend in seinem abgelegenen Ferienhaus an irgendeinem See (die schwedische Provinz würde sich als Setting durchaus eignen) dazu nutzen möchte, um „tabula rasa“ zu machen. Hierfür lässt der einstige 68er und unnachgiebige Weltverbesserer seine beiden grundverschiedenen Töchter, die naiv-mittellose Charlotte und die karrierefixierte Marie, seine Ex-Gattin Ella, seinen (ehemals) besten Freund Adrian und dessen Frau Katharina anrücken; später stößt dann auch noch Patentanwalt Heiko, der neue Freund von Marie, hinzu, um nicht im Auto draußen vor der Tür zu erfrieren. Anders als „der von der Insel Stammende“ (wie sich „Holm“ aus dem Altnordischen übersetzen ließe) es sich erdacht hat, beginnen die Dinge sich aber zu verselbstständigen: Anfangs – und eine ganze Weile – glaubt ihm niemand, dass er bald sterben wird, doch dann werden Zorn und Trauer umso größer. Marie ist wütend und macht ihrem Vater vielerlei Vorhaltungen, Katharina beschimpft ihren Mann als „Holm hörig“ und spätestens nachdem Ella eintrifft, wird die ganze Familiengeschichte schonungslos aufgearbeitet. Jeder bekommt bei diesem „Bankett“ sein Fett weg, und der Herzen fressende Kapitalismus wird da ebenso schnell Nebensache wie der ausgezeichnete Barolo.

Keine Sentimentalitäten

Dramaturgisch gesehen schafft Vattrodt mit Ein großer Aufbruch natürlich nichts Neues. Die Stücke von Yasmina Reza, um nur einen zeitgenössischen Namen zu nennen, funktionieren ganz ähnlich: Aus einem vermeintlich harmlosen Zusammentreffen wird eine zwischenmenschliche Zerfleischung, aus vermeintlich oberflächlichen Gesprächsanlässen eine abgründige Tour de Force. Anders als in Kunst oder Der Gott des Gemetzels begegnen sich bei Vattrodt allerdings nicht nur drei oder vier, sondern insgesamt sieben Personen, die durch die familiäre Vergangenheit auf vielfältige Weise miteinander verbunden und durch das bedrückende Oberthema Sterben regelrecht gezwungen sind, sämtliche Vorwürfe, aber auch intime und – wäre es anders zu erwarten? – erotische Geständnisse auszusprechen.

Gustav Rueb nimmt diese Eigenheiten der textlichen Vorlage, der es glücklicherweise an jener Rührseligkeit der konventionellen Filme über krebskranke Menschen (Heute bin ich blond, Und morgen Mittag bin ich tot etc.) mangelt, in seiner Essener Inszenierung ernst genug, um mit geringstmöglichem Ausstattungsaufwand (aufgestelltes Boot, Holztisch und -stühle, Geschirr, Weinflaschen, Handys, eine Pistole) den Schauspielern auf der allemal Tiefenwirkung entfaltenden Bühne des Grillo-Theaters (Bühnenbildner: Peter Lehmann) die größtmögliche sprachliche Entfaltung zu erlauben. Dorothee Joistens elegant-schlichte, doch farblich sorgsam differenzierte Kostümierung sowie die sparsamen, aber ungemein effektvoll eingesetzten Lichtstimmungen, für die Darius Engineer verantwortlich zeichnet, tun ihr übriges. Musikeinlagen oder sonstige Effekte wären hier auch tatsächlich fehl am Platz.

Wie Schauspieler mit dem Nichts umgehen

Das Ensemble des Essener Schauspiels wächst an diesem Abend über sich hinaus, was zweifellos ein Verdienst dieses klischeefreien Zugriffs auf einen weitestgehend klischeefreien Text ist. Thomas Büchel alias Adrian macht etwa eine beeindruckend glaubwürdige darstellerische Entwicklung durch – vom zu Beginn noch belächelten „feigen Diplomaten“ bis hin zum selbstsicheren und grundehrlichen, treuen Freund. Ines Krug überzeugt als seine bissige Frau Katharina, die am Ende nach einigen Demütigungen einräumen muss, dass ihr gar nicht mal so schwächlicher Mann finanziell und moralisch am längeren Hebel sitzt. Eine unprätentiös große schauspielerische Leistung vollbringt weiterhin Monika Bujinski (leider nur eine Gästin in Ruebs Inszenierung) als Ella, die ihre Familie zwar frühzeitig im Stich gelassen, den Heroinkonsum aber überwunden hat und nun sichtlich mit sich im Reinen ist. Und auch Floriane Kleinpaß (Marie) und Silvia Weiskopf (Charlotte) gehen in den Rollen der beiden Töchter auf, die seitens der Vorlage noch am ehesten klischeegefährdet (da als plakatives Gegensatzpaar gezeichnet) wären, dank ihrer lebhaften Spielweise de facto jedoch nichts von ihrer Authentizität einbüßen. Jan Pröhl sorgt als Heiko indessen für die nötige kleine Portion Komik, wenn er die gegenseitigen psychischen Attacken aus amüsierter juristischer Distanz betrachtet und immer wieder nach Adrians Köstlichkeiten, etwa dem Zitronen-Mango-Sorbet, verlangt. Aber er lässt es – auf der Bühne wie im Zuschauerraum – auch vollkommen still werden, wenn er von seiner ersten, an Leukämie erkrankten Frau erzählt, die ebenfalls Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollte, sich letztlich aber nicht traute, den unausstehlich bitteren, peu à peu lähmenden „Erlösungssaft“ hinunterzuschlucken, und stattdessen in ein wunderbares Hospiz kam.

Was wäre aus Sicht des Kritikers noch zu sagen? Jens Winterstein ist schlicht eine Idealbesetzung für den selbstfokussiert-kauzigen, wegen seines allzu menschlichen Idealismus bis zuletzt in hohen Schulden versunkenen Holm, der sich seinen betreuten Freitod im Grunde überhaupt nicht leisten kann. Wie er sein Lebenswerk schönzureden und „abzurechnen“ gedenkt, dann aber – insbesondere in der Auseinandersetzung mit Marie – den weichen Kern eines Vaters, ja eines sich nahezu krankhaft nach Liebe sehnenden Menschen offenbart, ist tief bewegend. Regelrecht Shakespeare-hafte Züge verleiht Winterstein der Figur im finalen Schlussmonolog, der einzigen episch erzählten Passage des Stücks, in der man „posthum“ erfährt, wie Holm drei Monate später ausrutschen und doch in einem Hospiz versterben sollte, während Heiko sich praktischerweise eine Tasse Kaffee holt, seine zwei Töchter aber bei ihm sind. Marie und Charlotte werden daraufhin beide ihre grundverschiedenen Lebensentwürfe verwirklichen. Was für ein schönes, kitschloses Happy End. Gustav Rueb krönt damit ein ganz aufs Wesentliche reduziertes Kammerspiel, das, gerade weil es niemals darauf abzielt, mit seiner Echtheit wohl jedem empathiefähigen Zuschauer einige Tränen aus dem Auge drückt.