Frankfurter Rundschau

„ORESTIE“ IN DARMSTADT
Der Hammer der Tat
 Von STEFAN MICHALZIK

Aischylos’ „Orestie“ in einer unverblümten Lesart mit teils triftigen Bildern am Staatstheater Darmstadt.

Wieder und wieder die Tat des Orest. In Gestalt von Mathias Znidarec ist er ein Hagerling mittleren Alters mit Vollbart, Brille und Wollkappe, auf der Straße in Darmstadt könnte man ihn für einen Dozenten an einer technischen Fakultät halten. Zu unheroisch an sich für Bluttaten, zerrt er doch wiederholt an diesem Abend, um Untreue und Mord an seinem Vater zu rächen, erst den Aigisthos, den jungen Liebhaber seiner Mutter, dann sie selbst durch einen seitlichen Abgang hinter die Bühne, schwere Schläge sind zu hören; mit Blut befleckt, den Hammer der Tat in der Hand kommt er zurück.

Mit Blut besudelt sind sie fast alle in der Inszenierung von Aischylos’ „Orestie“ durch Gustav Rueb am Staatstheater Darmstadt, ohne Schuld ist fast keiner in der 458 vor Christus in Athen uraufgeführten Tragödien-Trilogie. Dem ewigen Lauf von Schuld und Vergeltung wird zum Schluss Athene durch die Einführung der Gerichtsbarkeit ein Ende setzen – die Geburtsstunde der Demokratie. Mit Blick auf Tendenzen einer autoritär motivierten Infragestellung eines der Stücke des klassischen Fundus zur Zeit.
Rueb und sein Szenenbildner Daniel Roskamp lassen die Handlung in einem nachkriegsmodernen Ambiente mit Holzvertäfelung und Deckenplatten spielen. Eine Front von wetterverdreckten abgerundeten Fenstern lässt das Innere eines Schiffs erkennen. Die Musik geht weiter zurück, zum frühen Jazz. Freiheitlicher Aufbruch in den zwanziger, demokratischer Neubeginn in den fünfziger Jahren – alles nur noch Nostalgie auf einem heruntergekommenen Dampfer: Das ist eine starke Setzung.
Rueb geht frei mit der erzählerischen Struktur um. Gespielt wird nach einer neuen Übertragung von Kurt Steinmann, die sich durch eine Modernismen abhold heutige Flüssigkeit auszeichnet. Am Anfang steht die Bluttat an dem glorreich aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrten Agamemnon als Zeitlupenpantomime im roten Licht. Thomas Meinhardt als der selbstgewisse Sonnenbrillenmacho Agamemnon stellt einen Typus Männlichkeit der Tat dar, angesichts dessen es nicht weit zum Täter ist. Um günstiger Winde für seine Kriegsflotte willen hatte er die Tochter Iphigenie geopfert; als Kriegsbeute bringt er in der Darmstädter Inszenierung Kassandra in der Gestalt der klein gewachsenen Jana Zöll einem Vogel gleich im Käfig mit.

Nicht alles ist zwingend, zu etlichen triftigen Bildern indes kommt der dreistündige Abend. Immer wieder besonders jene mit Karin Klein, längst eine Assoluta von uneitler Art am Darmstädter Haus, diesmal als Gattenmörderin mit einer expressiven Rollenanlage. Zu einem eindrücklichen Format gelangt auch der Chor, die jungen Frauen Mattea Cavic, Anabel Möbius und Katharina Susewind als flottes, final auch schneidend Rache einforderndes Trio von Stewardessen. Von einer ruhenden Präsenz ist Samuel Koch als blondmähnig geschlechtsüberschreitende Athene; vom Rollstuhl des behinderten Schauspielers aus werden Videoaufnahmen etlicher Szenen gemacht, deren Doppelung es nicht gebraucht hätte.
Am Ende steht die Gerichtsverhandlung mit dem Publikum als Polis. Das Licht im Saal geht an, das freilich bleibt als Theatereffekt in der Luft hängen. Ein Theater, das sich lieber direkt in seiner Ansprache als formal versiert gibt. Ohne Umschweife vermittelt es die Botschaft des Rechtsstaatspatriotismus, in Zeiten einer bedenklichen Anfechtung.