hr2 - Die Frühkritik

Hr2 Kultur - zum Nachhören

Die Frühkritik

Moderator: Björn Bicker, Jahrgang 1972, ist ein Theater und Hörspielautor, der aktuelle Themen, besonders für ein junges Publikum in Szene setzt und damit grossen Erfolg hat. Für sein Stück „Deportation Cast“ wurde er 2012 mit dem deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet. Und dieses Stück ist nun in Kassel zu sehen. Gestern Abend hatte es im tif des Staatstheaters Premiere. Andreas Wicke war dabei. Es ist ein Stück über Flucht und Abschiebung, also ein Stück das aktueller gar nicht sein könnte.

Wicke: Ganz genau. Es geht um eine Roma-Familie, die im Jugoslawien-Krieg nach Deutschland geflohen ist, und nun, nachdem es dieses Rücknahme-Abkommen zwischen der Bundesrepublik und dem Kosovo gibt, dorthin zurück muss. Die Kinder sind allerdings in Deutschland aufgewachsen, die sprechen nur deutsch, und müssen nun in eine vermeintliche Heimat, in der sie fremd sind und bedroht werden. Gespiegelt wird dieser eine Handlungsstrang an einer deutschen Familie, deren Sohn in die Tochter dieser Roma-Familie verliebt ist, während der Vater als Pilot auch Abschiebeflüge nach Pristina fliegt. Und eine dritte Ebene bilden dann diejenigen, die sozusagen beruflich mit solchen Ausweisungen zu tun haben, etwa die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde oder der begleitende Arzt dieser Rückflüge, die sich dann einreden, dass sie nur ihre Pflicht tun, und diese einzelnen Stränge werden ziemlich raffiniert miteinander verwoben, und machen aus den anonymen politischen Rahmenbedingungen dann plötzlich ein sehr persönliches und eindringliches Stück.

Moderator: „Raffiniert miteinander verwoben“, wie geschieht das?

Wicke: Es werden diese einzelnen Geschichten erzählt, es gibt die vierköpfige Roma-Familie, eine deutsche Familie plus Lehrerin, ausserdem den Anwalt, den Arzt, die Sachbearbeiterin und die Beobachterin, aber dennoch sind eben nur vier Darsteller auf der Bühne, und das ist keine Sparmassnahme sondern Teil dieses Stückkonzeptes, und das führt dazu, dass man keine Täter-Opfer-Strukturen ausmachen kann. Das heißt, man weiß eigentlich nie, wer eigentlich gut oder böse ist, weil ja jeder auch noch zwei andere Figuren spielt. (...) und zwar so, dass es nie zu einem wirklichen Verschmelzen mit der Figur kommt, die Darsteller sind nie ganz in einer Rolle, und schlüpfen ganz schnell in die jeweils nächste, und das eben ohne grosse Markierungen, also kein deutlicher Stimmwechsel, keine markant andere Kleidung, und das ist ersten eine ganz große Konzentrationsleistung, die den Darstellern da gelingt, vor allem trägt es aber zum Gesamtkonzept der Inszenierung bei, die eben gerade nicht auf klassische und klare Wertungen setzt.

Gustav Rueb inszeniert schon recht lang in Kassel und er wird hier zurecht von vielen für seine sehr klugen und vielschichtigen Regiearbeiten geschätzt, egal ob es dabei um kanonisierte Klassiker oder ein Stück aus dem Bereich des Jugendtheaters geht... Eine Gefahr dieses Textes könnte sein, dass man, auch im Hinblick auf ein jüngeres Publikum, auf sehr deutliche, auf Klarheit, auf deutliche Trennungen setzt, Rueb gelingt es hier aber im Gegenteil die unterschiedlichen Perspektiven, Geschichten, Figuren, so raffiniert ineinander fliessen zu lassen, dass man wirklich in einen Sog mit hinein genommen wird, und während die politischen Grenzen im Stück ja ganz klar gezogen werden, sind die Grenzen zwischen den Familien gar nicht so eindeutig. Das zeigt sich auch im Bühnenbild,  während zu Beginn ein Stacheldrahtzaun unüberwindbar die Bühne in ein Vorne und Hinten teilt, wird der Raum dann immer komplexer und immer unübersichtlicher... Also das ist insgesamt eine sehr einfühlsam inszenierte Produktion. (...) Natürlich bezieht dieser Text Stellung, bezieht die Inszenierung Stellung, es ist eine deutliche Kritik an einer Abschiebepolitik, die den einzelnen Menschen hinter die Gesetzeslage stellt, aber, und das fand ich sehr angenehm, die Figuren werden nicht überzeichnet, die Schicksale werden in keiner Weise sentimentalisiert, es kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus, „Jeder spielt seine Rolle so gut er kann“, das ist dann der Schlusssatz. Insofern kommt man sehr berührt aus dem Theater, aber ohne angeklagt zu werden. (...)