Gustav Rueb schlägt in Kassel Schneisen in Goethes fünfhebiges Textgeflecht
Ein Himmel ohne Weisheitswolken
von Andre Mumot
"Na, was ist denn nun eigentlich Kunst?", fragt der Dichter. Antwort aber gibt Antonio, der Ignorant. Er stellt sich das zum Beispiel so vor: "Die Weisheit lässt von einer goldnen Wolke/ Von Zeit zu Zeit erhabne Sprüche tönen." Gemeint ist damit das Vorbild Ariost, aber es drängt sich der Gedanke auf, Goethe habe in einem Anflug biestiger Selbstironie bei diesen Worten vor allem an sich selbst gedacht und an das eigene Stück: An "Torquato Tasso", jenes streng zeremonielle, fünfaktige Bühnengespräch, das so reich ist an zitierfähigen Einzelsentenzen und so arm an szenischem Leben.
Wohl deshalb stehen an der Rampe der Kasseler Studiobühne Notenpulte mit Textseiten für alle Darsteller, hinter die sie manchmal treten können, um zu demonstrieren, dass die feierlichen Verse durchaus als Deklamationsmusik genossen werden dürfen. Regisseur Gustav Rueb jedenfalls arbeitet sich treu am Text entlang, während das äußere Erscheinungsbild seiner Inszenierung überdeutlich aus dem Hier und Heute stammt.
Dass Alfons der Zweite dabei als Proletenfürst im grünen Jogginganzug auftritt, mag auf den ersten Blick irritieren. Man achtet aber nicht lange darauf, schließlich ist man zu sehr damit beschäftigt, seine kleine französische Bulldogge namens Lola im Auge zu behalten. Die reißt nämlich gleich mehrere Szenen an sich, indem sie mit charismatischer Nachdenklichkeit über eine imposante Bühne streift, die mit einer Landschaft aus hölzernen Paletten und jeder Menge Kräutertöpfchen aus Terrakotta erfreut. Auf seinen Streifzügen kommt das umtriebige Haustier zudem immer wieder an der hölzernen Badewanne vorbei, in der Torquato Tasso lange Zeit hockt, sinniert und schreibt, um schließlich freudestrahlend in die Welt zu hüpfen und sein jüngst vollendetes Werk zu präsentieren.
Sonnig ist die Atmosphäre – die Menschen lächeln, französische Chansons frohlocken leise im Hintergrund, und Björn Bonns Tasso ist sehr anziehend in seiner überschäumenden Weltumarmungsstimmung. Insgesamt schlägt das Ensemble einen wunderbar leichten Ton an, – und die Liebesszene zwischen Tasso und der Prinzessin, die Christina Weiser mit lässigster Wärme flirten lässt, ist ein Musterbeispiel spielerischer Natürlichkeit.
Man möchte gar nicht, dass diese wonnigliche Urlaubslaune aufhört, aber sie hört natürlich auf. Viel passiert nicht – es tritt lediglich Antonio (Enrique Keil) schlecht gelaunt ins Rampenlicht, und der schwärmerische Dichter muss erleben, dass nicht jeder bereit ist, in seiner künstlerischen Betätigung einen sinnvollen Beitrag zum Gemeinschaftsleben zu sehen. Es folgen der unvermeidliche Nervenzusammenbruch, sowie verschiedene Debatten darüber, wie welthaltig und nutzenorientiert Kunst sein muss, welche Starallüren gerade noch erträglich sind, und welche nicht. Außerdem steht die kulturpolitisch nach wie vor nicht uninteressante Frage im Raum, was Künstler eigentlich objektiv leisten müssen, um eine finanzielle Förderung rechtfertigen zu können.
An diesem Abend aber ist all das furchtbar unkonkret – denn Tasso erlebt die Dialoge der Akte Drei und Vier nur noch als verstörenden Faschings-Alptraum. Jetzt trägt der Fürst eine grausige Halloweenmaske auf dem Kopf und jagt Tassos frisch vollendete Schöpfung kaltblütig durch den Schredder. Der Staatssekretär hebt ihm als gespenstische Mona Lisa im schwarzen Kleid schon mal prophylaktisch ein Grab aus, und die beiden Leonoren verplanen als bärtige Imitatoren des historischen Tasso seine Intimperspektiven.
Rueb lässt die Darsteller inmitten des kuriosen Spuks Schneise um Schneise durch das fünfhebige Textgeflecht schlagen, und doch geht alle Orientierung, alle Transparenz dabei verloren. Die Auseinandersetzungen verschwimmen im Wahn und offenbaren zudem immer wieder ihren eklatanten Mangel an ausgearbeitetem Gegenwartsbezug – so dass man sich zwangsläufig fragen muss, was die ganze Aufregung eigentlich soll. Hier bleibt nur der Kopf des Dichters übrig, nur seine kümmerliche Angst vor der Nichtbeachtung. Um dieser zu entgehen, legt er sich am Ende selbst mit viel Trara unters Fallbeil, was vom Panna Cotta löffelnden Hof beifällig zur Kenntnis genommen wird.
Goethes ideenschwere Konfrontation von Geist- und Tatmenschen schrumpft zusammen auf diesen einen Moment verzweifelter, eindimensionaler Eitelkeit. Kunst, scheint dieser Abend bitter zu bemerken, hat vor allem mit Geltungssucht zu tun, mit der Selbstgefälligkeit von Produzenten und Konsumenten.
Die Weisheitswolke einer idealistischeren Epoche ist längst weitergezogen, hat auch die erhabnen Sprüche mitgenommen. Und nicht nur eine kleine schwarze Dogge schaut ihr ungläubig und ermüdet hinterher.