Bedrohlicher Blick in den Spiegel
Goethes Erstling "Die Laune des Verliebten" in vielfacher Brechung.
Ein 18-Jähriger, der - heftig verliebt - 1767 sein erstes Drama schreibt: der unbekannte Goethe. Jung, aber literarisch schon sehr versiert. Er nutzt die vorgegebene Form des Schäferspiels, um seine eigenen umwälzenden Erfahrungen zu bewältigen. Der Inhalt, die Personen sind hier immer gleich: Zwei Paare, eins harmonisch miteinander verbunden, das andere von eifersüchtigen Streitereien gequält, machen einen Lernprozess durch. Die Eifersucht des einen Partners, in diesem Falle Eridon, wird geheilt durch die Erkenntnis, dass er selbst verführbar ist. Happy-End, amoralisch, aber glücklich.
Das kleine, elegante Spiel um zärtliche Gefühle und Liebesintrigen ist die Vorlage, aus der in der Kasseler Aufführung im Theater im Fridericianum (tif) etwas ganz anderes entsteht: ein bedrohlicher Blick in den Spiegel, in dem der Zuschauer sein eigenes Gesicht erkennt, reflektiert nicht nur in den Spiegelsäulen der Bühne (Ausstattung: Florian Etti), sondern in Zitaten und Querverweisen von Goethes eigener Liebeslyrik über Choderlos de Laclos’ "Gefährliche Liebschaften" (1782) bis zu Zeitgenossen wie Georges Bataille (1972) oder Roland Barthes (1984). Darin tritt der "amour fou", die leidenschaftliche Liebe am Rande des Wahnsinns mit ihrem Selbstzerstörungspotenzial, mit quälender Deutlichkeit hervor. Ein heftiger, immer wieder Distanz und Spannung schaffender Subtext zu Goethes leichtfüßigen Alexandrinern, den die vier Darsteller souverän über die Rampe bringen.
Die Montage, die Regisseur Gustav Rueb und seine Dramaturgin Elke Maul geschaffen haben, gleicht einer Zeitreise, die sich im fliegenden Wechsel der Kostüme vom heutigen legeren Kleiderstil immer mehr der formalen Reifrock- und Perückenwelt des 18. Jahrhunderts annähert.
Doch auch hier ist nichts perfekt. Die schönen Kleider bleiben offen, die Füße nackt. Immer wieder befreien sich Amine, die Frau, die zu sehr liebt (Birte Leest mit genauer Differenzierung des Gefühlsüberschwangs), ihr launischer Verehrer Eridon (Jochen Drechsler als eigenwilliger Gefühls-Experimentator), Egle, die kluge Freundin Amines (Andrea Cleven als geschickte Manipulatorin im Beziehungsgeflecht) und ihr Freund Lamon (Sebastian Hülk, ihr treuer Liebhaber) von Perücken, Hosen und Röcken, flüchten sich in die Sensualität, suchen hektisch neue Verkleidungen und Verdoppelungen in der Spiegelwelt. Hier kommt auch Ironie ins Spiel. Doch siegen die extremen Gefühle. Die Blumen und Kränze des Schäferspiels bleiben im virtuellen Raum, die Liebe stirbt. Ein böser Schluss.