Wer Kette raucht, kann auch morden
vonJudith v. Sternburg
Ulrike Syhas Küsten- und Gesellschaftsstück „Drift“ eröffnet den Heidelberger Stückemarkt.
Tückisch ist, dass man das Abdriften nicht unbedingt schnell bemerkt, und das, obwohl sich die Drift nahe der Oberfläche befindet. Wäre sie sichtbar, könnte man sie also sehen, aber man sieht meistens nur, dass etwas in eine Richtung läuft, die nicht geplant war. Das muss nicht schlimm, kann jedoch katastrophal sein. In Ulrike Syhas Küstenstück „Drift“ geht es natürlich nicht allein um Meeresbewegungen, sondern um die Mitte der Gesellschaft, die abdriftet, während sie sich darüber beklagt, wie sich um sie herum alles verändert. Der Gedanke, dass das vor allem etwas mit ihr und ihrem Standpunkt zu tun haben könnte, kommt ihr nicht. Es graust ihr vor der Veränderung, während sie längst ohne Grund unter den Füßen und Ruder in den Händen im Lokal „Seekrug“ Kaffee mit Süßstoff trinkt.
Vom „Seekrug“ aus betrachtet
Die „Mitte der Gesellschaft (Drei Damen mit Haltung)“ – so steht es auf dem Besetzungszettel – hat einen Sonnenbrand, Verdauungsprobleme, lyrische Anwandlungen und große Sorgen, was die vielen Ausländer überall betrifft. Wenngleich nicht im „Seekrug“, wo insgesamt wenig los ist. Im Heidelberger Zwinger 1 residiert hier der zutiefst lakonische Olaf Weißenberg als Kellner Johann. Die „Mitte“ spielen mit einigem Spaß am Unausstehlich-Sein Christina Rubruck, Elisabeth Auer und Nicole Averkamp, zur etwas krebsroten Haut das kräftige, allerdings stumpfe Haar blondiert und frisiert, die Kleidung blütenweiß. So leicht sind sie nicht zu greifen, die Mitte der Gesellschaft und ihre gelegentliche Schamlosigkeit, was Argumentationsketten betrifft (der griechische Wirt ist willkommen, der Pole, so lange er Miete zahlt, einem Kettenraucher ist das Schlimmste zuzutrauen), eine Schamlosigkeit, die sie aus dem Vollgefühl ihrer mittigen Position ableitet. Da sie nicht merkt, dass sie es ist, die abdriftet.
Drumherum eine Geschichte, die spannend sein könnte: Ein Bürgermeister (noch einmal Weißenberg) dreht dummen Städtern schlecht gelegenen Baugrund an. Ein Architekt (Marco Albrecht als relativ normaler Mensch) warnt vor einem drohenden Klippenabbruch, der auch ein von ihm entworfenes Mietshaus mitreißen würde. Eine Hotelchefin ist bei einem nicht sehr wahrscheinlichen Unfall umgekommen und ihr gegenwärtiger Lebensgefährte – rege Partnerwechsel sorgen im Küstendorf offenbar für Abwechslung – verschwunden. Vor allem ist mit Beginn des Stücks „Die Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte“, eingetroffen. Man sieht ihr Gesicht nicht, begleitet sie aber bei ihren Besuchen. Sie ist von hier, sie kennt sich aus, manchmal stellt sie Fragen. Höchst interessiert befindet man sich damit auf einem Gelände zwischen Ibsens „Volksfeind“ und Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, denkt womöglich auch an böse Jelinek-Tiraden – muss aber feststellen, dass Syha weder darauf erpicht war, der Handlungsdramaturgie zu viel Raum und Raffinesse zu geben, noch der Sprache im Detail. Die mögliche Krimihandlung löst sich lapidar auf, die Figuren bleiben unscharf, die verheißungsvolle Präsenz der „Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte“, führt auf einen Holzweg. Die Dialoge, auf die Syha setzt, lassen auf Abgründe hoffen, die sich nicht auftun, den Monologen Claires etwa (der merkwürdigsten der „Drei Damen mit Haltung“) fehlt dann doch der doppelte Boden. So schön die Idee ist, die auf die „Seekrug“-Stammgäste eindringende Welt in Form von auswärtigen Joggern in immer größerer Zahl zuweilen um die Bühne traben, eilen, humpeln zu lassen, so sehr leidet auch sie unter der erzählerischen Lauheit, die über dem anderthalbstündigen Abend liegt.
„Drift“ hat beim Heidelberger Stückemarkt 2018 den deutschsprachigen Wettbewerb gewonnen, die Uraufführung eröffnet darum die diesjährige Ausgabe. Gustav Rueb inszeniert in Peter Lehmanns Ausstattung. Syhas Idee, dass der „Seekrug“ und die „Mitte der Gesellschaft“ der einzige zwingend „reale“ Part sind, alles andere per Video eingespielt werden kann, setzen Alexander Ebeerts Filme gewitzt um. Auch Ruebs Andeutungen, dass wir es mit einer Gespenstergeschichte zu tun haben könnten (Türen klappern, Möwen kreischen bedrohlich, und der omnipräsente, gut informierte „Er“, Daniel Noël Fleischmann, schlängelt sich mysteriös um die Ecke), lässt sich viel abgewinnen. Alle engagieren sich, aber in der Mitte scheint sich einfach zu wenig zu befinden.