Kulturmagazin

Alles Abulkasem oder was? 

Im tif feierte das Stück Invasion eine umjubelte Premiere 

Von Steve Kuberzyck-Stein 

Es beginnt so süß und witzig: Puppenspiel mit Barbies im Spielzeugboot. Man erfährt: »Silvio Luna segelte einst mit Frau und Kind nach Sardinien.« Doch – wo kommen denn da plötzlich diese Störgeräusche her? Wer rüpelt denn da im Zuschauerraum? Mit Zwischenrufen, Gegröle und Pforzgeräuschen stören zwei Radaubrüder die Inszenierung – und das währende der ausverkauften Premiere des neuen tif-Stückes Invasion (Inszenierung und Bühne Gustav Rueb/ Dramaturgie: Dieter Klinge). Gehören die dazu oder sind die echt? Das Licht geht an, Bühnenarbeiter erscheinen und rufen: »Wir brechen ab.« Doch der Spaß mit dem Ernst beginnt erst. Die beiden vermeintlichen Pöbelbrüder sind Schauspieler und Teil des Ensembles, das den Zuschauern in den nächsten 80 Minuten mit grotesk überzeichneten Klischees und herrlich durchgeknallten Figuren den Spiegel vorhält. Man könnte fast sagen: mit Comedy-Shampoo gründlich den Kopf wäscht. 

So verrückt wie irritierend glaubhaft 

Genaugenommen wirft das Stück des Autor Jonas Hassen Khemiri – die Mutter Schwede, der Vater Tunesier – keine Fragen auf, aber jede Menge Fragwürdigkeiten. Medien, Macht, Moral, Klischees – wir glauben, was uns vorgesetzt wird. Jedes Vakuum sucht sich seinen Inhalt. In den rasend schnellen Szenenwechseln wird zwar auf Possenmaß gestutzt, was das Zeug hält – zwei Prolo-Typen mit jugendlichem Gassenslang führen ein, blödeln herrlich, unterhalten mit viel Komiker-Talent prächtig – gleiches gilt für das gesamte Ensemble, dennoch wirken diese »Verrückten irritierend glaubhaft. Auch die anderen Szenarien: Ein Talkmaster mit Expertenrunde, so ausgekotzt intellektuell wie blutarm, eine Seminargruppe – so dösig, alternativ und schlapp, so kennt man die Klischees, so erzeugt man sie. Auch die Feindbilder vom geilen, aber dummen und aufdringlichen Ausländer, der der hübschen, intellektuell und moralisch überlegenen Deutschen nur Fragmente ins Ohr zu labern weiß: »Eh, was geht? Find diesch äscht puschig. Gibst Nummer, oder?« 

Abulkasem heißt der Triebgesteuerte. Und von ihm, besser von diesem – Namen, Ausdruck, Begriff – wird man in Kürze überflutet werden. Denn Abulkasem steht in dem Stück für alles. Ist Maske und Versteck, ist Propaganda und Hetzjagd. Ist Ausdruck für Ängste, für Gefühle, für Hass, für Terroristen oder den besten Freund. Abulkasem ist die Allzweck-Lösung und Allzweck-Waffe. Überall einsetzbar, beliebig anwendbar und jederzeit zu verändern. 

Rasante Szenen- und Rollenwechsel 

Im Stück geht immer alles rasant schnell. Die tollen Darsteller (Dieter Bach, Sebastian Klein, Anna-Maria Hirsch, Thomas Meczele) wechseln im Minutentakt die Rollen. Ebenso oft wechselt das Bühnenbild. Doch was heißt Bühnenbild. Eine gähnend lange, mobile Schrankwand ist hier die Drehscheibe des Lebens. Einmal rotiert und man glotzt zum Beispiel sogleich auf eine Medienwand, in der Fernsehmoderatoren über die Suche nach Abulkasem berichten. Agenten aus aller Welt jagen ihn. Warum? Das weiß keiner so genau, aber dass man jemanden jagen kann – das zählt, beruhigt, tut gut. Projektionsflächen, alle gebündelt in dem einen Namen Abulkasem. Klingt thematisch etwas abgehoben, doch will man deuten, dann steht Abulkasem für uns alle. Für das Individuum und die Gesellschaft. Für jede Flucht und jede Suche. Für jeden Nenner, dem die Zähler nicht bekannt sind oder ungenannt bleiben wollen. Abulkasem ist Maske und Identifikationshilfe. So können aus Pfützen Ströme werden, aus Klischees Meinungen, aus Unbekannten Phantome der Angst, die es zu jagen und zu vernichten gilt. Es geht um Abulkasem. Das bedeutet? Es geht um alles. Denn mit diesem Begriff wird gefüllt, was gefühlt, nicht aber definiert wurde. Und so wird der Sündenbock geformt, wie auch das Image. Das Vorurteil genährt, wie auch die Identität. Und ganz besonders wichtig: Ängste bekommen einen Namen. 

Das großartige Stück bietet ein breites Feld an Interpretationsmöglichkeiten, wie auch, wenn man so möchte, Botschaften. Basteln wir uns doch eine eigene - und nennen sie nicht Abulkasem, sondern bei ihrem richtigen Namen. Auch wenn man dabei auf Klischees verzichten muss und ein wenig selbst nachdenken. Genau das hat uns Abulkasem nämlich gelehrt. Applaus? Gefühlte zehn Minuten.